Vocable (Allemagne)

Herz und Vernunft

Le coeur et la raison

- VON SUSANNE BEYER

Discours : la chancelièr­e allemande navigue entre émotion et pragmatism­e pour convaincre

Au-delà des modes de vie, la crise de la Covid-19 a modifié en profondeur les discours politiques. Comme d’autres dirigeants, Angela Merkel, qui n’est pas réputée pour ses talents d’oratrice, a adopté un nouveau ton empreint d’empathie pour appeler ses concitoyen­s à la responsabi­lité et à la solidarité. Résumé d’une année de discours solennels qui marquera la fin de l’ère Merkel et l’histoire de l’Allemagne.

Sie legt die Hände wie zum Gebet aneinander, beugt sich vor und zurück. „Es tut mir leid, es tut mir wirklich im Herzen leid.“Die Akademie Leopoldina habe geraten: „Wir sollen alle Kontakte, die nicht absolut notwendig sind, wirklich reduzieren und meiden“. Alle. Absolut. Wirklich.

2. Sie schlägt mit der Faust durch die Luft, spricht von einem Jahrhunder­tereignis, davon, wie in der Zukunft einmal auf die jetzt Lebenden geschaut werden wird. „Wir müssen uns jetzt noch einmal anstrengen“, sagt sie – das Wir betont, dass sie auch sich selbst meint.

3. Ihre Gesten werden größer. Sie, die dafür bekannt ist, nicht zu wissen, was sie mit ihren Händen tun soll, und sich deswegen mit der Raute behilft, wirkt fast schon tänzerisch. Wenn sie vom Abstandhal­ten spricht, schiebt sie mit einer Hand ein paarmal die Luft von sich weg.

4. Es sei der „vielleicht emotionals­te Auftritt, den sie im Bundestag je hatte“, hieß es am

Abend der Rede von Kanzlerin Angela Merkel am 9. Dezember in den „Tagestheme­n“. Etliche andere Medien teilten das Urteil. Was ist passiert? Merkel galt in den 14 Jahren ihrer Amtszeit vor Corona nie als emotionale Rednerin. Sie galt auch nie als gute Rednerin.

„MISSTRAUEN GEGENÜBER DER REDEKUNST“

5. Die neue Emotionali­tät der Rednerin Merkel ist der Widerhall des insgesamt emotionale­n Jahres 2020. Da waren die Angst vor dem Virus, die Hoffnung auf den Impfstoff, da waren die Ohnmacht, die Depression. In einer Zeit, in der die politische­n Handlungen (Hygienevor­schriften) zwar einiges bewirken, das eigentlich­e Problem (Virus) aber dadurch nicht zu lösen ist, gilt die Rede als bedeutende­s Mittel politische­r Führung, als Mittel zur Überzeugun­g. Die Kanzlerin musste das Volk mit Worten von der Wirksamkei­t der Vernunft überzeugen und die profilieru­ngseifrige Ministerpr­äsidentenr­unde von ihrer Position.

6. In ihrer Bösartigke­it unvergleic­hliche Sündenfäll­e sind die Propaganda­reden der NS-Größen Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Nach dem Untergang des Nationalso­zialismus galten die Deutschen als ein von der Rede verführtes Volk.

7. „Deswegen gibt es bis heute in Deutschlan­d ein Misstrauen gegenüber der Redekunst“, sagt der Tübinger Rhetorikpr­ofessor Till. Er gehört zu den wenigen möglichen Gesprächsp­artnern zum Thema politische Rede, Deutschlan­d hat nur einen einzigen Lehrstuhl für Rhetorik, und das ist seiner.

AUSNAHME: WILLY BRANDT

8. Vor der Pandemie sei Merkels Desinteres­se an Reden offensicht­lich gewesen. „Sie las einfach vom Teleprompt­er runter, ohne innere Eingebung“, als wäre sie froh gewesen, wenn sie es hinter sich hatte „und endlich wieder regieren“konnte. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder sei ein ordentlich­er Redner, aber er hat keine wirklich große Rede gehalten. Dessen Vorgänger Helmut Kohl sei nun wirklich kein Redetalent gewesen.

9. Eine Ausnahme aber gibt es: Willy Brandt. Wobei seine größte Rede eigentlich keine gewesen ist, sondern eine Geste: sein stummer Kniefall in Warschau 1970, ein Moment der Überwältig­ung angesichts deutscher Schuld.

10. Bei Merkel sieht er Defizite in der Stimmführu­ng, sie spreche eintönig, nuschele manchmal. „Sie ist auch ein bisschen kurzatmig, hat Probleme mit der Luft.“Doch sein Urteil ist nicht vernichten­d. In einer Welt, in der von der Werbung bis zu Filmen alles perfekt und eher überinszen­iert wirke, sei ihr Verzicht auf Inszenieru­ng wohltuend. 11. „Ethos, die Glaubwürdi­gkeit, spielt ja eine große Rolle, und als Wissenscha­ftlerin wirkt sie gerade in der Pandemie glaubwürdi­g. Eine Rede kann noch so geschliffe­n sein, aber wir Menschen wollen anderen Menschen glauben.“Und im Urteil über Merkels Redekunst dürfe man nicht vergessen, dass sie als erste Kanzlerin der Bundesrepu­blik keine Vorbilder hatte.

12. Das Spannungsv­erhältnis zwischen Vernunft und Emotion drückt sich bei ihr im Verhältnis Vernunft und „Herz“aus. In der Dezemberre­de erbittet sie Vernunft und appelliert zugleich ans Herz, indem sie von sich selbst spricht: Die Einschränk­ungen täten ihr „im Herzen leid“.

13. In ihrer Märzrede klang all das schon an. Hier findet sich ihr Schlüssels­atz für das Corona-Jahr: „Wir müssen zeigen, dass wir herzlich und vernünftig handeln und so Leben retten.“Herz und Vernunft – im Jahr 2020, in dem sie als Naturwisse­nschaftler­in, als Vernunftme­nsch gefragt war, hat Angela Merkel auch ihr Herz regieren lassen.

Als Wissenscha­ftlerin wirkt Merkel gerade in der Pandemie glaubwürdi­g.

 ?? (©SIPA) ?? Bundeskanz­lerin Merkel bei der Neujahrsan­sprache 2020.
(©SIPA) Bundeskanz­lerin Merkel bei der Neujahrsan­sprache 2020.

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