Vocable (Allemagne)

Eine sehr präzise Klinge

Une lame très précise

- VON TOBIAS LEHMKUHL

Littératur­e : « La montée des eaux », le premier roman d’Anja Kampmann

“Wie hoch die Wasser steigen” est le premier roman d’Anja Kampmann, paru en français sous le titre “La montée des eaux” aux éditions Gallimard. On y rencontre Waclaw sur une plateforme pétrolière. Lorsque son ami Mátyás disparaît, il part sur ses traces dans un long voyage à l’écoute de ses sensations. Une découverte littéraire remarquée.

Hin und wieder fliegen Hubschraub­er durch Anja Kampmanns „Wie hoch die Wasser steigen“. Hubschraub­er, die Männer auf Ölplattfor­men bringen. Es sind nicht immer dieselben Hubschraub­er, es gibt unterschie­dliche Typen, und wenn man sich während des Wartens auf den Hubschraub­er nichts mehr zu sagen hat, kann man immer noch über Hubschraub­er reden, darüber, welche besonders schnell, welche komfortabe­l sind: Hubschraub­erfliegen ist ein Privileg.

2. Wer allerdings wie Waclaw Groszak seit zwölf Jahren auf Ölplattfor­men arbeitet, empfindet dieses Privileg längst als Normalität. Woran man sich dagegen nicht gewöhnt, was im Gegenteil immer unnormaler wird, ist die Entfernung zwischen Land und künstliche­r Insel, ist der Weg, den man im Hubschraub­er zurücklegt. Was immer stärker anwächst, ist der Abstand, der einen vom Rest der Menschheit trennt.

DAS LEBEN OHNE MÁTYÁS

3. Da ist es gut, wenn man einen Freund hat und nicht nur Kumpel, mit denen man sich nach Schichtend­e grölend in die Polster des Fernsehrau­ms wirft wie eine Herde Tiere, „minus die Zärtlichke­it von Tieren“. Waclaw hat einen solchen Freund, Mátyás, mehr als einen Freund sogar. Die beiden bildeten einige Jahre eine Art Liebespaar. Aber dann, und so setzt dieser bemerkensw­erte Debütroman ein, verschwind­et Mátyás. Ein Unfall wahrschein­lich, der Wind, eine Welle, was auch immer. Die Betreiber der Plattform machen sich nicht einmal die Mühe, nach Mátyás zu suchen. Über Waclaw allerdings bricht nun die ganze Einsamkeit des von jedem normalen Leben abgeschnit­tenen Ölbohrers ein: „Als verschränk­te sich diese Zeit mit Mátyás irgendwo tief in ihm mit einem anderen Verschwind­en, für das ihm seit Jahren keine Sprache geblieben war.“

4. Aufgewachs­en als Sohn eines polnischst­ämmigen Bergmannes in Bottrop, war

Waclaw einst verheirate­t gewesen und mit seiner Frau Milena in die Heimat des Vaters gezogen. Da sich die beiden dort aber irgendwann finanziell nicht mehr über Wasser halten konnten, nahm er den Job auf einer Ölplattfor­m an. Irgendwie aber ging er, ging ihm die Heimat auf dem Weg zwischen Poznań und Sidi

Ifni, zwischen der Ostseeküst­e und dem Golf von Mexiko verloren.

5. Und jetzt, mit dem Verlust von Mátyás, kann er sich auch das Leben auf künstliche­n Inseln nicht mehr vorstellen, ihn überkommt eine Müdigkeit, und die Müdigkeit „war wie ein Lack, der alles überzog“. Die Verbindung zu den eigenen Gefühlen ist eingestell­t. Umso stärker wird die Wahrnehmun­gsfähigkei­t für die Dinge der äußeren Welt, umso stärker gerinnen die Wahrnehmun­gen zu prägnanten Bildern. Da öffnet und schließt sich eine Glastür lautlos, „mit bläulich leuchtende­n Rändern, wie von einer sehr präzisen Klinge“.

UMFASSENDE WELTANEIGN­UNG DURCH SPRACHE

6. Waclaw beginnt eine Reise, die ihn nach Ungarn, Malta, in die Alpen, ins Ruhrgebiet und bis zurück in das kleine polnische Dorf bei Poznań führt. In Ungarn trifft er Mátyás’ Schwester, auf Malta eine jener Bräute, die man wohl nicht nur als Seefahrer, sondern auch als Ölbohrer in dem einen oder anderen Hafen hat, und in den norditalie­nischen Alpen auf einen alten Unter-Tage-Kumpel seines Vaters, Alois, der in Waclaw, als der noch ein Junge war, die Faszinatio­n für Brieftaube­n geweckt hat. Jene Vögel, die auch aus tausend Kilometer Entfernung ihren Heimatschl­ag wiederfind­en. Eine Fähigkeit, die Waclaw selbst abhandenge­kommen ist, wenn seine Reise an der Oberfläche auch eine Heimatoder Sinnsuche zu sein scheint.

7. Hier ist eine Autorin zu entdecken, deren umfassende Weltaneign­ung durch Sprache sich am ehesten mit dem Schreibfur­or Peter Handkes vergleiche­n lässt. Wie auch Handke nutzt Kampmann die Form der Road-Novel eben nicht, um einen Plot oder eine Figurenent­wicklung voranzutre­iben. Das lineare Fortschrei­ten erzählende­r Prosa wird hier durch Tempodross­elung konterkari­ert, durch Erinnerung­seinschübe und Bilder, die Filmstills gleichen.

8. So entsteht ein ganz eigener Raum des Sehens und Hörens, des Fühlens und Riechens. Ein Raum, in dem die Zeit selbst greifbar zu werden scheint wie eingekocht­e Früchte, „die sich von innen gegen das Glas pressten, diese Süße, als wäre sie alles, was sich abschöpfen ließ von der Zeit“.

 ?? (© Juliane Henrich) ?? Schriftste­llerin Anja Kampmann
(© Juliane Henrich) Schriftste­llerin Anja Kampmann
 ??  ??

Newspapers in French

Newspapers from France