Eine sehr präzise Klinge
Une lame très précise
Littérature : « La montée des eaux », le premier roman d’Anja Kampmann
“Wie hoch die Wasser steigen” est le premier roman d’Anja Kampmann, paru en français sous le titre “La montée des eaux” aux éditions Gallimard. On y rencontre Waclaw sur une plateforme pétrolière. Lorsque son ami Mátyás disparaît, il part sur ses traces dans un long voyage à l’écoute de ses sensations. Une découverte littéraire remarquée.
Hin und wieder fliegen Hubschrauber durch Anja Kampmanns „Wie hoch die Wasser steigen“. Hubschrauber, die Männer auf Ölplattformen bringen. Es sind nicht immer dieselben Hubschrauber, es gibt unterschiedliche Typen, und wenn man sich während des Wartens auf den Hubschrauber nichts mehr zu sagen hat, kann man immer noch über Hubschrauber reden, darüber, welche besonders schnell, welche komfortabel sind: Hubschrauberfliegen ist ein Privileg.
2. Wer allerdings wie Waclaw Groszak seit zwölf Jahren auf Ölplattformen arbeitet, empfindet dieses Privileg längst als Normalität. Woran man sich dagegen nicht gewöhnt, was im Gegenteil immer unnormaler wird, ist die Entfernung zwischen Land und künstlicher Insel, ist der Weg, den man im Hubschrauber zurücklegt. Was immer stärker anwächst, ist der Abstand, der einen vom Rest der Menschheit trennt.
DAS LEBEN OHNE MÁTYÁS
3. Da ist es gut, wenn man einen Freund hat und nicht nur Kumpel, mit denen man sich nach Schichtende grölend in die Polster des Fernsehraums wirft wie eine Herde Tiere, „minus die Zärtlichkeit von Tieren“. Waclaw hat einen solchen Freund, Mátyás, mehr als einen Freund sogar. Die beiden bildeten einige Jahre eine Art Liebespaar. Aber dann, und so setzt dieser bemerkenswerte Debütroman ein, verschwindet Mátyás. Ein Unfall wahrscheinlich, der Wind, eine Welle, was auch immer. Die Betreiber der Plattform machen sich nicht einmal die Mühe, nach Mátyás zu suchen. Über Waclaw allerdings bricht nun die ganze Einsamkeit des von jedem normalen Leben abgeschnittenen Ölbohrers ein: „Als verschränkte sich diese Zeit mit Mátyás irgendwo tief in ihm mit einem anderen Verschwinden, für das ihm seit Jahren keine Sprache geblieben war.“
4. Aufgewachsen als Sohn eines polnischstämmigen Bergmannes in Bottrop, war
Waclaw einst verheiratet gewesen und mit seiner Frau Milena in die Heimat des Vaters gezogen. Da sich die beiden dort aber irgendwann finanziell nicht mehr über Wasser halten konnten, nahm er den Job auf einer Ölplattform an. Irgendwie aber ging er, ging ihm die Heimat auf dem Weg zwischen Poznań und Sidi
Ifni, zwischen der Ostseeküste und dem Golf von Mexiko verloren.
5. Und jetzt, mit dem Verlust von Mátyás, kann er sich auch das Leben auf künstlichen Inseln nicht mehr vorstellen, ihn überkommt eine Müdigkeit, und die Müdigkeit „war wie ein Lack, der alles überzog“. Die Verbindung zu den eigenen Gefühlen ist eingestellt. Umso stärker wird die Wahrnehmungsfähigkeit für die Dinge der äußeren Welt, umso stärker gerinnen die Wahrnehmungen zu prägnanten Bildern. Da öffnet und schließt sich eine Glastür lautlos, „mit bläulich leuchtenden Rändern, wie von einer sehr präzisen Klinge“.
UMFASSENDE WELTANEIGNUNG DURCH SPRACHE
6. Waclaw beginnt eine Reise, die ihn nach Ungarn, Malta, in die Alpen, ins Ruhrgebiet und bis zurück in das kleine polnische Dorf bei Poznań führt. In Ungarn trifft er Mátyás’ Schwester, auf Malta eine jener Bräute, die man wohl nicht nur als Seefahrer, sondern auch als Ölbohrer in dem einen oder anderen Hafen hat, und in den norditalienischen Alpen auf einen alten Unter-Tage-Kumpel seines Vaters, Alois, der in Waclaw, als der noch ein Junge war, die Faszination für Brieftauben geweckt hat. Jene Vögel, die auch aus tausend Kilometer Entfernung ihren Heimatschlag wiederfinden. Eine Fähigkeit, die Waclaw selbst abhandengekommen ist, wenn seine Reise an der Oberfläche auch eine Heimatoder Sinnsuche zu sein scheint.
7. Hier ist eine Autorin zu entdecken, deren umfassende Weltaneignung durch Sprache sich am ehesten mit dem Schreibfuror Peter Handkes vergleichen lässt. Wie auch Handke nutzt Kampmann die Form der Road-Novel eben nicht, um einen Plot oder eine Figurenentwicklung voranzutreiben. Das lineare Fortschreiten erzählender Prosa wird hier durch Tempodrosselung konterkariert, durch Erinnerungseinschübe und Bilder, die Filmstills gleichen.
8. So entsteht ein ganz eigener Raum des Sehens und Hörens, des Fühlens und Riechens. Ein Raum, in dem die Zeit selbst greifbar zu werden scheint wie eingekochte Früchte, „die sich von innen gegen das Glas pressten, diese Süße, als wäre sie alles, was sich abschöpfen ließ von der Zeit“.