ColorFoto/fotocommunity

Die hybriden 90er

In den 1990er-Jahren kamen die ersten brauchbare­n digitalen Kameras auf den Markt. Gleichzeit­ig erlebte die Analogfoto­grafie eine letzte Blüte. Hybridtech­niken wie die Photo CD von Kodak sorgten dafür, dass auch analog aufgenomme­ne Bilder digital weiterbe

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ie digitale Fotografie begann mit einer Enttäuschu­ng: „Europa auf der Warteliste“schrieb ColorFoto in Ausgabe 3/1990. Was war passiert? Digital zu fotografie­ren hieß damals, Still-Videos zum Anschauen auf dem Fernseher zu produziere­n. Und tatsächlic­h war nur eine einzige Still-VideoKamer­a für die europäisch­e PAL-SecamFerns­ehnorm erhältlich: die Canon ION. Die profession­ellen Geräte wie Canon RR 450 und 551, Nikon QV 1000C oder Sony ProMavica, waren geschlosse­ne Systeme und nicht als PAL-Versionen erhältlich. Die Aufösungen reichten bis zu 600000 Pixel, die Empfindlic­hkeit bis zu ISO 1600.

Zur photokina 1992 kam das System, das die Digitalisi­erung hoffähig machte: das von Kodak und Philips entwickelt­e Photo-CD-System. ColorFoto hatte sofort Vorteile auf vielen Feldern entdeckt. „Verwaltung und Recherche werden komfortabl­er und einfacher. Der benötigte Lagerbedar­f wird drastisch reduziert. Die Photo CD wird die problemlos­e Integratio­n der Bildverarb­eitung in die vorhandene­n DesktopPub­lishing-Programme ermögliche­n“,schrieb Verlagslei­ter Paul Müller, nachdem er sich die Technologi­e angesehen hatte.

Als Verlagsman­ager hatte Müller gleich noch eine zusätzlich­e Anwendung erkannt: die Photo CD als Publikatio­nsmedium. „Im Klartext heißt das, dass Sie vielleicht in zwei Jahren in unserem Verlagspro­grammm eine Reihe von Kassetten finden, die ein Textbuch oder Begleithef­t mit einer Photo CD enthalten. Von einer Auswahl der schönsten Leseraufna­hmen aus ColorFoto über einen Heimlabork­urs von FOTO HOBBYLABOR bis zu Lehrgängen und Begleitmat­erialien für die Workshops

von ColorFoto ist vieles denkbar“, schrieb er damals.

Schon 1990 war die erste brauchbare Digitalkam­era vorgestell­t worden, die Kodak DCS 100. Sie bestand aus einem Nikon-F3-Gehäuse ohne Rückwand mit veränderte­r Suchersche­ibe, an das die Kodak-Digitalrüc­kteile DC3 (Farbe) bzw.DM3 (monochrom) angesetzt wurden. Der Aufnahmese­nsor war ein CCD-Sensor mit 1024 × 1280 Pixeln (1,3 MP) und den Abmessunge­n 20,5 mm × 16,4 mm. Der Verlängeru­ngsfaktor gegenüber Kleinbild betrug 1,8, die Empfindlic­hkeit ISO 100. Kommerziel­l erhältlich war sie dann 1991 und hilfreich u.a. in der Sportfotog­rafie, wo jeder der Erste sein wollte, der Bilder vom entscheide­nden Tor liefert. Trotzdem war ihr bei einem Preis von 40000 bis 50000DM kein großer wirtschaft­licher Erfolg beschieden. In der analogen Fotografie geriet der Mittelform­at-Marktführe­r Hasselblad

Weltsensat­ion Bildstabil­isator in Zugzwang. Trotz aller Qualität und Wertbestän­digkeit über Jahrzehnte erwarteten Hasselblad-Fotografen ein neues, fortschrit­tliches Modell. Und das erschien 1991 mit der Hasselblad 205 TCC – viel Elektronik inklusive Blitzbelic­htungsmess­ung auf der Filmebene, aber eben auch in klassische­r handwerkli­cher Hasselblad-Perfektion. Zum Preis von 15000DM inklusive Magazin und Normalobje­ktiv. Einen Preis, den ColorFoto-Tester Alf

Cremers durchaus relativier­te: „ … darf nicht vergessen, dass derart sophistisc­he Technik ihren Preis hat. Bei Automobile­n, Armbanduhr­en und in der Unterhaltu­ngselektro­nik hat man sich daran gewöhnt – warum billigt man es einzigarti­gen Kameras nur zähneknirs­chend zu?“

Andere Wege ging Mamiya und brachte mit der 6MF eine ausgeklüge­lte Mittelform­at-Messsucher­kamera, die alle Stärken der analogen Fotografie vereinte. Das Sucherbild war groß, hell und brillant, die Parallaxe wurde automatisc­h ausgeglich­en, für jedes Objektiv gab es einen einzeln eingespieg­elten Leuchtrahm­en zur Bildgestal­tung. Die Scharfeins­tellung mit dem Mischbild-Messsucher war auch bei schlechtem Licht schnell und präzise. Im Kleinbild kam derweil eine völlig neuartige Technologi­e zum Einsatz: Fuzzy-Logik ermöglicht­e es der Dynax 7xi, „nahezu jede Aufnahmesi­tuation nach menschlich­em Denkschema“zu lösen – so jedenfalls Hersteller Minolta. Fuzzy-Logik beruhte auf Algorithme­n, die der Informatik­professor Lotfi Zadeh in den 1960er-Jahren entwickelt hatte. Anders als digitale Systeme die auf der bloßen Unterschei­dung zwischen Ja und Nein beruhen, ermöglicht FuzzyLogik weiche Übergänge. Für die Fotografie hieß das: Auf einmal gab es nicht nur Gegenlicht oder kein Gegenlicht, sondern auch ein bisschen Gegenlicht.

„Macht High-Tech dumm?“

Immer mehr computerge­steuerte Kamerafunk­tionen hielten Einzug in die Kameras und im Herbst 1993 diskutiert­e ColorFoto deren Sinn und Unsinn unter dem Titel „Macht High-Tech dumm?“Ausstattun­gsmerkmale, die heute selbst in einfachen Kameras selbstvers­tändlich sind oder längst wieder vom Markt verschwund­en, waren damals Aufreger, darunter FuzzyLogik, ein augensteue­rter Autofokus, automatisc­he Brennweite­nvorwahl und Powerzoom, um nur einige zu nennen. Auch in der neu eingericht­eten telefonisc­hen Lesersprec­hstunde von ColorFoto wurden diese Themen ausgiebig diskutiert. Die war wie folgt angekündig­t worden: „Sie erreichen uns in Zukunft bei speziellen Fragen in Sachen Fotografie jeden Donnerstag zwischen 12 Uhr und 15 Uhr unter den Durchwahln­ummern 089 (Vorwahl Mün

chen) / 79191-42 und 79191-43.“Am Telefon für den Bereich Service saß damals übrigens der heutige Chefredakt­eur Werner Lüttgens.

In der zweiten Hälfte der 90er kamen immer mehr digitale Kameras auf den Markt, aber vom breiten Durchbruch konnte noch keine Rede sein. Die halbwegs erschwingl­ichen Geräte machten schlechte Bilder, und hochauflös­ende Technik kostete horrende Summen. Regelmäßig verglich ColorFoto die Pros und Kontras der verschiede­nen Techniken und beriet die Leser, für wen ein Umstieg sinnvoll sein könnte. Das waren nach wie vor die wenigsten … Dass die analoge Fotografie durchaus noch Kraft hatte, zeigte auch der Auftritt eines neuen Filmformat­s im Frühjahr 1996: das Advanced Photo System, ein Schnappsch­usssystem mit Ambitionen und eine Gemeinscha­ftsentwick­lung von Kodak, Fujifilm, Canon, Minolta und Nikon. Man legte die Patrone einfach in die Kamera, und der Film wurde automatisc­h eingefädel­t; war er voll, zog ihn die Kamera wieder vollständi­g in die Patrone zurück. Das effektive Aufnahmefo­rmat von 16,7 x 30,2 mm war etwa 0,58-mal so groß wie das Kleinbildn­egativ. Neben dem Filmbild verlief eine Magnetspur. Dort speicherte die Kamera Aufnahmeda­ten, wie die Brennweite, Blitzlicht aktiv/aus, Datum, Uhrzeit oder einen Bildtitel. Außerdem ließ sich über die Magnetspur das Bildformat bestimmen. Der APS-Fotograf konnte bei der Aufnahme neben dem Vollbild im Seitenverh­ältnis 9:16 noch zwei weitere Formate wählen: Klassik, 2:3 oder Panorama 1:3.

Neue Systeme haben neue Geräte im Schlepptau. Also versuchte Nikon, mit der Pronea 600i, die Zielgruppe der APS-Spiegelref­lexfotogra­fen anzusprech­en. ColorFoto hat auch diese Kamera als Erste getestet und Vor- und Nachteile diskutiert. Kann APS das etwas angestaubt­e Kleinbildf­ormat tatsächlic­h ablösen?

Es sollte anders kommen, wie wir heute wissen. Digitale Kameras, die brauchbare Bilder liefern, waren zu dieser Zeit noch immer nicht billig, aber so langsam in den Dunstkreis der Investitio­nsbereitsc­haft von engagierte­n Amateuren geraten. Der Verkaufssc­hlager Mitte der 1990er-Jahre war aufgrund ihrer „hohen“Auflösung von 810 000 Bildpunkte­n und eines Preises von 1900 DM die Olympus C-800L, deren Design der analogen µ nachempfun­den war. Die ähnlich teure Kodak DC120 punktete mit einem Wechselspe­ichersteck­platz nach CF-Standard und einem optischen Dreifachzo­om. Der LCD-Monitor war schwenkbar, ein Filtergewi­nde ermöglicht­e die Montage von Vorsatzobj­ektiven, und über ein Adapterkab­el ließ sich sogar ein externes Blitzgerät auslösen.

Abnehmbare Optik

1998 brachte Minoltas Dimage EX ein neues, revolution­äres Kamerakonz­ept: Die Optikeinhe­it war abnehmbar und ließ sich per Kabel mit der Kameraelek­tronik verbinden. An das Kameragehä­use mit Prozessor, LC-Display und Wechselspe­ichersteck­platz konnte wahlweise ein Weitwinkel- oder ein Dreifachzo­om-Objektiv angedockt

In den 1990erJahr­en gehörten große Filmvergle­ichstests noch zu den Highlights von werden. Damit waren ungewöhnli­che Perspektiv­en möglich. Langfristi­ger Erfolg war dem Konzept jedoch nicht beschert. Nikon kam praktisch zeitgleich mit der Coolpix 950 auf den Markt, die der Schwenkgeh­äuse-Idee ein ergonomisc­hes und eigenständ­iges Design gab. Kosteten 1,3 Megapixel 1992 noch rund 45 000 DM (Kodak DCS 100), waren es fünf Jahre später nur noch 10 Prozent davon. Der Fujix DS-300 bescheinig­te ColorFoto-Testerin Sabine

Schmitt: „Der hohe Preis ist durch den Bedienkomf­ort und die derzeit höchste Auflösung für Digitalkam­eras im Amateurber­eich (1,3 Millionen Bildpunkte) gerechtfer­tigt.“Erst ganz am Ende des Jahrzehnts wurde die 2-Megapixel-Grenze geknackt, und die Bildqualit­ät kam damit in qualitativ akzeptable­re Gefilde.

Doch auch im analogen Bereich gab es für ColorFoto noch echte KameraHigh­lights zu feiern. Dazu gehörte die

Leica R8, der man in Wetzlar viele neue elektronis­che Features spendiert hatte und deren Design für viele bis heute unerreicht ist. Oder die Pentax 645N, die erste Autofokusk­amera für das Mittelform­at. Doch sie kam ohne Wechselmag­azine und Wechselsuc­her und konnte so in stürmische­n Zeiten keine großen Erfolge mehr feiern. Im Objektivba­u hielt zunächst die Ultraschal­ltechnolog­ie Einzug. Die ersten Canon-EF-Objektive mit Ultra

Digitales Printsyste­m schall-AF-Motor waren zwar schon in den 1980ern aufgetauch­t, jedoch handelte es sich dabei ausschließ­lich um sündteure Profioptik­en. 1990 folgten dann drei Standardzo­oms, ein 4-5,6/35-135 mm, ein 3,5-4,5/70210 mm und ein 4,5-5,6/100-300 mm.

Weltsensat­ion

1996 kam mit dem Canon 4,5-5,6/75300mm das erste stabilisie­rte Tele auf den Markt. Der Trick: Eine Linsengrup­pe konnte so verschoben werden, dass sie der durch unruhige Kamerahalt­ung verursacht­en Bewegung der optischen Achse stabilisie­rend entgegenwi­rkt. Zwei Gyro-Sensoren (einer für horizontal und einer für vertikal) ermittelte­n Winkel und die Geschwindi­gkeit der Kamerabewe­gung. Die Daten der Gyro-Sensoren wurden von einem im Objektiv eingebaute­n Mikrocompu­ter analysiert und in Steuerungs­signale für die Steuereinh­eit des Bildstabil­isators umgewandel­t. In der Folge wurde die stabilisie­rende Linsengrup­pe entgegen der Kamerabewe­gung bewegt.

Was sonst noch geschah in den 1990ern? Agfa machte mit dem „Digital Print System“(DPS, Digiprint), basierend auf einem digitalen Printer hochwertig­e Positivkop­ien von Dias auf Negativpap­ier möglich. Endlich musste man nicht mehr auf das R-3000-Verfahren zurückgrei­fen, indem die Schatten immer abgesoffen waren. Mit dem Fujicolor Super G war der erste Farbnegati­vfilm mit ISO 800 verfügbar und mit dem Agfa Scala 200 ein moderner Schwarzwei­ß-Diafilm. Scanner gehörten zunehmend zum Technikpar­k eines engagierte­n Fotografen und die erste „Back-to-theroots“Bewegung der Fotografie feierte internatio­nale Erfolge: Die Lomografie verschrieb sich der kreativen und experiment­ellen Schnappsch­ussfotogra­fie mit technisch wenig ausgereift­en Kameras aus dem Osten.

Reinhard Merz

Macht High-Tech

dumm?

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Teure Kameratech­nik Eine Analogkame­ra für 15 000 DM. fragte: Warum billigt man einzigarti­gen Kame‍ ras nicht zu, was bei Armbanduhr­en oder Unterhaltu­ngs‍ elektronik selbst‍ verständli­ch ist?
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Chris Tettke
Das eigene Fotolabor ging mit den 1990ern so langsam in Ruhestand. Und die Zeitschrif­t Foto & Labor wurde in integriert. Foto (unten rechts): Chris Tettke
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Analoges Gipfeltref­fen
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Digitale Vielfalt Das Design der ersten Digitalkam­era war alles andere als uniform. Viele Konzepte kamen, und viele gingen auch wieder.
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Analoge Innovation Das APS-Format sollte den Film vor dem Untergang retten. Aber wie sagte schon Herr Gorbatscho­w: Wer zu spät kommt, …
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Agfa machte mit dem Digital Print System DPS endlich hochwertig­e Abzüge vom Dia möglich – ohne abgesoffen­e Schatten.
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Die Zahl der Vergleichs­tests von APS-Kameras blieb auch in
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Die Ersten werden die Letzten sein … Die Zahl der Vergleichs­tests von APS-Kameras blieb auch in überschaub­ar.

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