Das Liebespaar des Jahrhunderts
Nie habe ich die Katze angeschrien. Ich beglückwünschte mich, dass ich den Garten längst für mich hatte. Weil ich ihn niemandem mehr zeigen wollte, mühte ich mich nicht mehr darin ab. Inzwischen gab es fast nur noch junge Familien in der Anlage. Sie bauten Baumhäuser auf die Parzellen und stellten Trampoline auf. Ich wurde nicht mehr aufgefordert, die Hecke zu richten oder das Nadelgewächs neben der Pforte zu entfernen. Nur den Giersch grub ich weiterhin aus. Mein Kampf gegen den Giersch hatte etwas Tröstliches. Abgesehen von dir war er das Beständigste in meinem Leben. Die Pappeln rauschten, und kurz bevor es zu regnen anfing, klang ihr Rauschen wie das Meer. Ich sagte mir: Die Natur ist schön. Ich sagte es mir, damit mir der Gedanke an meinen Tod nicht so schrecklich vorkam. Das Buddeln in der Erde ist eine Einstimmung aufs Sterben. Man muss seinen Frieden machen. Ich grub den Giersch aus und sah dabei den Käfern und Würmern zu. Ich grüßte sie. Bald sehen wir uns, sagte ich zu ihnen. Ich versuchte, etwas Gutes darin zu entdecken – in dem ewigen Spiel vom Werden und Vergehen, das mir in Wahrheit wie eine Scheußlichkeit erschien. Eines Nachmittags im Herbst, als ich mit dem Fahrrad unterwegs war, hielt ich an einer Kreuzung und sah: Sämtliche Ampeln waren rot. Autos, Fahrradfahrer und Fußgänger stan-den sich lauernd gegenüber, wie kurz vorm Duell. Wer würde als Erster seine Waffe ziehen? Das ist mein Leben, dachte ich. Ich war richtig böse, als die Ampel auf Grün schaltete und alles wieder in Bewegung kam. Ich litt an nichts. Ich wollte nur nirgendwo hin. Nicht zu dir, aber auch nicht zu jemand anderem. Am Abend schrieb ich einem Mann im Ausland, den ich vor langer Zeit auf einer Dienstreise kennengelernt hatte. Bei einem Umtrunk hatte er gesagt, meine Stiefel gefielen ihm. Später hatten wir uns in einem Hauseingang geküsst. In den Jahren danach hatten wir uns hin und wieder geschrieben, lauwarme Nachrichten, kleine Sehnsuchtsbröckchen, die wir ins Unbekannte schickten. Angestrengt überlegte ich, was ich ihm mitteilen könnte. Nach zwei oder drei Sätzen wurde ich ratlos. Ich kam mir albern vor. Wie konnte man etwas Totes wiederbeleben? Irgendwann klappte ich den Laptop zu. Damit war die Beziehung beendet. Es war nicht mal ein Beenden. Aus dem zeitweiligen Schweigen wurde ganz einfach ein endgültiges Verstummen. Ich erwartete mir von einer Romanze keine Veränderung meines Lebens mehr. Ich er-wartete mir nur eine Romanze. Immer öfter fielen mir Episoden ein, an die ich schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte. Als würde ich dich nachträglich bei etwas ertappen, erbrachten sie den Beweis dafür, dass ich mich von Anfang an in dir geirrt hatte. Mir fiel wieder ein, wie ich dir heimlich auf das Konzert gefolgt war. Anderthalb Stunden war ich mit dem Zug gefahren, und als ich dann in dem fast leeren Club gestanden hatte, hattest du mich nicht gesehen, so vertieft warst du gewesen, vertieft in dein eigenes Leben. War das nicht typisch? Das dachte ich. Ich dachte es immer häufiger. Typisch! Für ihn ist der umgekippte Weihnachtsbaum ein Anlass, ihn kurzerhand aus dem Fenster zu werfen, anstatt ihn wieder aufzurichten! (Während der alte Röhrenfernseher seit Jahrzehnten im Keller steht.) Und dann die riesigen Sträuße, die er mitgebracht hat! Als hätte er sich von Anfang an freikaufen wollen.