Rechtsextremismus fordert den Staat heraus
Mit drastischen Worten warnt der Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (AFV), Stephan Kramer, vor der wachsenden Gefahr des Rechtsextremismus. Es gebe in der rechten Szene eine Gewaltbereitschaft „bis hin zur Affinität zu Waffen und Sprengstoff“, sagte Kramer in einem Interview der DuMont Redaktionsgemeinschaft. Der Rechtsextremismus sei „in die Mitte der Gesellschaft vorgewuchert“, er bedrohe mittlerweile die Fundamente des Staates. Die Bilanz des AFV-Chefs: Die Behörden hätten es heute mit einem „existenziellen Problem“zu tun.
Tatsächlich geben Polizeistatistiken in Thüringen den Experten Anlass zur Sorge. Im ersten Quartal 2016 gab es dort 270 Prozent mehr Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Landesregierung in Erfurt zählt 945 Personen zum rechtsextremen Spektrum. „Hoffnung auf Besserung besteht kaum“, schreibt die Autorin Andrea Röpke in ihrem „Jahrbuch rechte Gewalt 2017“– und hebt besonders das schnelle Wachstum von vernetzten „cliquenartigen Neonazi-Gruppen“im Freistaat hervor.
Das Problem geht jedoch über die Thüringer Landesgrenzen hinaus. So rechnet der sächsische Verfassungsschutz mit einem starken Wachstum der Neonazi-Szene. In Sachsen sind 2016 so viele Extremismus-Ermittlungen eingeleitet worden wie nie – bis Ende November gab es 493 Verfahren gegen 738 Beschuldigte.
Auch in Baden-Württemberg wurde im ersten Halbjahr 2016 ein Anstieg der Straftaten mit rechtsextremistischen Motiven von 521 auf 745 im Vergleich zum ersten Halbjahr 2015 registriert. Das Landesamt für Verfassungsschutz nennt die Aufnahme vieler Flüchtlinge einen Grund für die Radikalisierung der rechten Szene.
Die Rechtsextremisten sähen Migranten als Bedrohung für die „völkische Reinheit“und befürchteten den Niedergang des „deutschen Volkes“, erklärt Fabian Virchow, der an der Hochschule Düsseldorf den Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus und Neonazismus leitet. Aus Sicht der Rechtsextremen legitimiere das die Gewalt, so Virchow. Ihr Niveau habe „definitiv zugenommen“.
Der Experte wirft der Politik vor, das Phänomen unterschätzt zu haben, weil sie davon ausgegangen sei, dass es sich nur um einen kleinen Kreis von Extremisten handele. Andererseits sei es jedoch für die Verfassungsschützer schwieriger geworden, gegen Rechtsextreme vorzugehen. Denn es sei in der Szene durch bessere Vernetzung kein großes Problem mehr, konspirative Wohnungen anzumieten, sich falsche Dokumente zu besorgen und etwa an Waffen aus Osteuropa zu kommen, erklärte der Fachmann vergangene Woche im nordrhein-westfälischen Landtag.
Um den Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus effizienter zu bekämpfen, fordert das Bundeskriminalamt die Ausweitung der Videoüberwachung und den Zugriff auf verschlüsselte Kommunikation von Verdächtigen. In Baden-Württemberg wird 2017 das Abhören von Kommunikation via Internet vor der Verschlüsselung („Quellen-TKÜ“) eingeführt. Auch sollen die Ermittler die Möglichkeit erhalten, auf Festplatten fremder Computer zugreifen zu können.