Verführung hoch vier
Stuttgarter Ballett weiß sein Publikum mit vier Choreografien zu begeistern – Musik von Debussy, Weber, Ravel und Prokofiev
STUTTGART - Mindestens vierfach verführt das Stuttgarter Ballett in seinem jüngsten Ballettabend: mit einer Uraufführung der Choreografin Katarzyna Kozielska, die klassisches Ballett witzig aufbricht, mit neuen Deutungen berühmter Choreografien, denen Sidi Larbi Cherkaoui und Marco Goecke ihre je eigene Handschrift geben, und mit einem Klassiker von Maurice Béjart, der wohl nie seine magische Kraft verlieren wird. Hinzu kommen die Verführung durch exzellente Tanzkunst, durch stimmige Kostüme und Beleuchtung und durch die Musik von Claude Debussy, Carl Maria von Weber, Maurice Ravel und Gabriel Prokofiev. James Tuggle und das Staatsorchester Stuttgart erweisen sich wieder als stilistisch vielseitige Partner der Tänzerinnen und Tänzer. Dass eine gute Portion Erotik dabei ist, versteht sich beim Abendthema „Verführung!“von selbst.
Bewegungssprache wandelt sich
„Dark Glow“(Dunkle Glut) nennt Katarzyna Kozielska ihr Stück, das den Abend eröffnet. Die polnische, in Stuttgart ausgebildete und dort engagierte Tänzerin, wird zunehmend für eigene Kreationen gefragt. Ein Paar mit runden, sinnlichen Bewegungen (Hyo-Jung Kang und Constantine Allen), eine außenstehende Beobachterin (Alicia Amatriain), im Hintergrund eine Gruppe von Mädchen, das ist die Ausgangssituation. Dazu hat Gabriel Prokofiev, ein in England geborener Enkel des großen Sergej Prokofjew, eine einerseits filigrane, andererseits stark rhythmische Musik geschaffen, die nach und nach von elektronischen Klängen durchzogen wird. Entsprechend wandelt sich die Bewegungssprache Kozielskas. Zum klassischen Tanz auf Spitze kommen eckig abgewinkelte Füße, Knie und Hände, aus fließendem Paartanz wird sperriges, verstocktes umeinander Ringen. Eifersucht und Isolation werden in der Körpersprache greifbar. Es ist eine vieldeutige Erzählung voller Emotionen und auch mit Humor durchzogen.
Vor gut einem Jahrhundert hat der russische Tänzer Vaslav Nijinsky mit seiner Deutung von Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“nach dem Gedicht von Stéphane Mallarmé Tanzgeschichte geschrieben und viele inspiriert. 2009 schuf der flämisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui eine eigene Version für das Sadler’s Wells Theatre in London, die Stuttgart jetzt erstmals aufführt. Pablo von Sternenfels verkörpert mit seinem dunklen Lockenkopf und den geschmeidigen Bewegungen den Faun, das mythologische Mischwesen zwischen Mensch und Tier: kreatürlich, nah am Boden, lauernd, kreisend scheint er sich seinen Raum zu erobern. Mit dem Erscheinen des Mädchens (Hyo-Jung Kang) wird die zauberische Flötenmusik von Debussy aufgebrochen, erhält andere Akzente durch den englischen Komponisten Nitin Sawhney. Vor der Hintergrundprojektion eines Herbstwaldes wirkt das symbiotisch verschmelzende Springen, Kriechen, ineinander verwobene Treiben der beiden wie das Spiel von zwei Naturkindern, die ihre Sexualität entdecken. Faszinierend.
Trommelfeuer der Trippelschritte
Auch „Le spectre de la rose“ist, 1911 von Michael Fokine für Nijinsky und Tamara Karsawina entwickelt, ein Klassiker des Balletts. Zur Musik von Webers „Aufforderung zum Tanz“dringt der Rosengeist („Ich bin der Geist der Rose, die du gestern trugst beim Ball“) in das Zimmer eines schlafenden Mädchens ein, führt die Träumende zum Tanz. Bei Marco Goecke, dem Stuttgarter Hauschoreographen mit der eigenwilligen Körpersprache, und seiner 2009 entstandenen Choreografie sieht das natürlich ganz anders aus. Wie Gliederpuppen schütteln sechs Männer Rosenblätter aus ihren roten Anzügen, erzeugen mit ihren Trippelschritten ein Trommelfeuer auf dem Boden. Eine Frau (Agnes Su in schwarzer Hose und hellem Stäbchenmieder) und der Rosengeist (Adam Russell-Jones) vereinen sich in ebenso ausladenden wie kleingliedrigen Bewegungen. Das ist virtuos getanzt, wie immer bei Goecke, doch von der Poesie und Anmut des Weber‘schen Walzers geht viel verloren.
Pure Magie herrscht dagegen in Maurice Béjarts Deutung von Ravels „Bolero“aus dem Jahr 1961, der seit 1984 im Repertoire des Stuttgarter Balletts ist und den Generationen von Tänzern und Solistinnen immer wieder neu beleben. Friedemann Vogel war der umjubelte Star, der auf dem roten Tisch tanzt und die rundum im Karree auf roten Stühlen sitzenden Männer in den ritualisierten Tanz hineinzieht. An anderen Abenden werden es Jason Reilly oder Alicia Amatriain sein. Getragen von Ravels stetig gesteigerter Musik lässt er sich in den Sog der Bewegung hineinfallen, greift immer mehr aus und beginnt gleichsam zu fliegen. Und jeder der jungen Tänzer im Ensemble träumt davon, einmal selbst auf diesem roten Tisch zu tanzen.
für „Verführung!“mit dem Stuttgarter Ballett gibt es für die Aufführungen am 10. und 23. Februar. Die Aufführungen am 11., 14., 27. und 28. Februar sowie 4. und 7. März sind ausverkauft. Eventuell gibt es Restkarten an der Abendkasse. unter der Telefonnummer