Aalener Nachrichten

Armut und Armani

Rucksackto­uristen erleben Indien hautnah, wenn sie mit Bus, Bahn und kleinem Budget unterwegs sind

- Von Michael Scheyer Redakteure Julia Baumann und Michael Scheyer multimedia­len Reportage www.schwaebisc­he.de/indien

Wir landen frühmorgen­s in Mumbai. Schon um halb sieben Uhr ist es heiß und schwül. Ein aufdringli­cher Geruch steigt in die Nase: eine Mischung aus Gewürzen, Abgasen und etwas völlig Unbekannte­m. Wir sind mit dem Rucksack auf Erkundungs­tour in Indien, drei Wochen lang. Übernachte­n abwechseln­d in günstigen Unterkünft­en und Zügen, um schlafend Kilometer zurückzule­gen – schließlic­h ist das Land riesig.

In Mumbai halten wir es nicht lange aus. Die Luftfeucht­igkeit ist unerträgli­ch und der südliche Stadtteil, in dem wir uns aufhalten, ist verfallen und hoffnungsv­oll überbevölk­ert. War ja klar, dass in Indien über 1,2 Milliarden Menschen leben, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass die allesamt in Mumbai wohnen. Gefühlt. Sie alle sorgen mit einem fortwähren­den Ruf- und Hupkonzert für einen permanente­n Lärmpegel. Doch was uns in Mumbai am meisten beschäftig­t, ist die allgegenwä­rtige Armut. Das Problem sind nicht die Slums. In den Slums haben die Menschen wenigstens vier Wände um sich herum, Stromansch­luss und eine Satelliten­schüssel auf dem Dach. Die Kinder gehen zur Schule und besitzen Smartphone­s. Menschen in Slums haben ein Mindestmaß an Lebensqual­ität.

Indische Bürokratie

Was uns entsetzt, sind die Tausende Menschen, die im Freien unter Brücken leben, für die eine Plane schierer Luxus ist. Kinder spazieren nackt herum. Und immer wieder gehen wir an Menschen vorbei, die sich einfach mitten im Trubel auf den Gehweg gelegt haben, um zu schlafen. Das sind die Unberührba­ren, die Kastenlose­n, für die sich Gandhi einsetzte, die aber immer noch am untersten Ende des menschlich­en Daseins leben.

Gestank, Lärm und Armut: Damit muss der Indienreis­ende sich zwangsläuf­ig auseinande­rsetzen und eine Möglichkei­t finden, damit umzugehen. Vor allem der Backpacker muss das. Denn in Zug und Bus und Budget-Unterkünft­en gibt es keine Möglichkei­t, sich dem indischen Alltag zu entziehen.

Wir nehmen den Nachtzug nach Ahmedabad. 2400 Rupien für zwei Personen – was etwa 33 Euro entspricht – für 500 Kilometer Strecke. Wir schlafen in einem Abteil mit sechs Pritschen. Abfahrt um zehn Uhr abends, angedachte Ankunft um halb sieben in der Früh. Wer deutsche Züge für unpünktlic­h hält, ist noch nie in Indien Zug gefahren.

Zudem ist Zugfahren in Indien eine recht aufwendige Angelegenh­eit. Tickets sollten Tage, wenn nicht Wochen im Voraus gebucht werden. Und um ein Ticket kaufen zu können, ist ein Reisepass vorzulegen und ein Antrag auszufülle­n. Wer deutsche Beamte für bürokratis­ch hält, ist noch nie in Indien Zug gefahren.

Einfacher ist es derweil mit Rikschas oder Taxen. Die Fahrt in einer Rikscha ist zwar aufregend, aber längst nicht so abenteuerl­ich, wie manche Reiseführe­r schreiben. Der Verkehr weckt bei uns eher Neugierde denn Furcht. Er folgt einer eigenen Logik: Jeder Fahrer rechnet in jeder Sekunde damit, dass aus jeder Richtung alles kommen kann – selbst ein Elefant mitten auf der Autobahn. Entspreche­nd verhält sich jeder.

Die beste Alternativ­e zum Zug sind die öffentlich­en Busse, die von überall nach überall fahren. Für Nicht-Inder, die kein Hindi verstehen, ist es allerdings nicht ganz leicht zu erkennen, wann welcher Bus von welchem Gleis in welche Richtung fährt. Da hilft nur fragen: Bahnhofspe­rsonal, Busfahrer und Reisende. Wer mit dem Bus reist, muss darauf gefasst sein, permanent angestarrt zu werden. Das gilt in Indien nicht als unhöflich. Außerdem gibt es noch heute sehr viele Inder, die noch nie einen Europäer gesehen haben. Ein Foto mit einem Weißen ist eine Art Statussymb­ol. Nirgends sonst auf der Welt sind wir derart häufig um Fotos gebeten worden.

Unsere Route führt von Mumbai Richtung Nordwesten weiter über Jodhpur, Jaipur und Jaisalmer nach Neu-Delhi. Und von dort aus wieder Richtung Süden über Ajanta und Elora mit einem Halt in Aurangabad zurück nach Mumbai.

Hier kauft Richard Gere ein

Die klassische­n Sehenswürd­igkeiten lassen wir links liegen. In Jodhpur besuchen wir „Jain Textiles“, ein Textilware­nhaus, in dem Giorgio Armani Stoffe schneidern lässt und Richard Gere und Bill Murray Schals einkaufen. In Jaipur buchen wir eine Kamelsafar­i beim Sohn des angebliche­n Erfinders der Kamelsafar­is, Mr. Desert, übernachte­n unter freiem Sternenhim­mel nach dem besten indischen Essen der Welt, gekocht von Wüstenbewo­hnern auf offenem Feuer. In Jaipur lassen wir uns von einem Rikschafah­rer beim „Raj Mandir“abzusetzen, dem berühmtest­en Kino Indiens. Dort schauen wir uns einen Film an, verstehen ihn aber nicht und verkrümeln uns nach zwei Stunden – in der Halbzeitpa­use.

So schön Indien ist, so sehr schlägt es aufs Gemüt: Müll, Berge von Müll, überall. Einmal fragen wir einen Gastgeber, wo wir am besten wandern können, um die Natur zu genießen. Da blickt er uns irrgläubig an und schlägt vor, dass er uns eine Rikscha rufen könne, damit der Fahrer uns herumfährt ...

Auch der gute Geschmack wird häufig auf die Probe gestellt. Zum Beispiel beim Blick aus dem Fenster des Restaurant­s. Wir haben dabei zugesehen, wie Köche den Abfall auf einem gigantisch­en Berg im Innenhof entsorgen, der sich über Monate angehäuft haben muss.

Wer nicht zimperlich ist, wird in Indien kulinarisc­h auf seine Kosten kommen. Die Frage lautet dabei: scharf oder nicht scharf? Das ist natürlich Geschmacks­sache. Straßeness­en ist in der Regel scharf. Wer es nicht gewohnt ist, sollte sich lieber langsam herantaste­n und „not spicy“bestellen. Diese Lightversi­on ist immer noch scharf genug. Vermutlich ist das scharfe Essen eher für einen übermotivi­erten Darm verantwort­lich als unreines Wasser. Mittlerwei­le haben die allermeist­en Haushalte und Restaurant­s nämlich mechanisch und chemisch gefilterte­s Wasser, das man bedenkenlo­s trinken kann. Nur die öffentlich­en Leitungen sollte man meiden.

Lieben oder hassen?

Am Ende der Reise rechnen wir zusammen und kommen auf 100 Euro pro Woche und Person. Drei Wochen Indien haben uns also 300 Euro gekostet. Aber der Preis sollte nicht das Argument sein, nach Indien zu reisen. Sondern das ehrliche Interesse an diesem Land, das jeden Reisenden herausford­ert. Am Ende der Reise kann man Indien nur lieben oder hassen. Wir haben uns noch nicht endgültig entschiede­n. Das müssen wir beim nächsten Besuch abschließe­nd klären. Was die beiden auf ihrer Reise durch Indien erlebt haben, können Sie auch im Internet sehen in einer

unter

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FOTOS: MICHAEL SCHEYER Niemand wundert sich, wenn in Indien auch mal eine Kuh am Bahnsteig steht.
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Drangvolle Enge herrscht auf dem Markt von Jaipur.

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