Poesie schlägt Politik
Goldener Bär auf der Berlinale für das ungarische Liebesdrama „Körper und Seele“
BERLIN - Einen Start-Ziel-Sieg hat „Körper und Seele“bei der Berlinale hingelegt: Gleich der erste im Wettbewerb gezeigte Film hat den Goldenen Bären bekommen. Keine schlechte Entscheidung der Jury, obgleich Publikumsliebling Aki Kaurismäki nur mit einem Regie-Preis – soll man sagen: abgespeist wurde? Eine Bilanz nach zehn Tagen, 400 Filmen und einer ausgewogenen Ernährung auf Cola- und Snickers-Basis.
Bei der Presse wie in den Publikumsvorführungen galt die tragikomische Flüchtlingsgeschichte des finnischen Eigenbrötlers als hoher Favorit. Doch auch der Film der Ungarin Ildikó Enyedi stand bei vielen Gästen auf der Rechnung: eine verträumtmelancholische Liebe zwischen zwei Außenseitern, einer autistischen jungen Frau und einem älteren Mann, der einen Arm verloren hat. Verlorene Seelen, die feststellen, dass sie dieselben Träume teilen. Enyedi bettet die Handlung in zwei durchgehende „tierische“Bildfolgen ein, die immer wieder eingeblendet werden: Zwei Hirsche, sanft-idyllisch im Wald hier, ein industrieller Schlachthof als Ort des Geschehens da.
Traurig und schön ist dieser Film, verdient der Preis allemal. Und er wäre es auch bei einem stärker besetzten Wettbewerb, bei dem die Konkurrenz größer gewesen wäre als im Jahrgang 2017. Doch Festivalleiter Dieter Kosslick und sein Team hatten offenkundig Mühe, bessere Filme und renommiertere Namen an Land zu ziehen. Hollywood war so schwach vertreten wie selten, weil der Berlin-Termin für das OscarRennen viel zu spät liegt. Dazu gab es drei schwache deutsche Beiträge, viel verfilmte gute Absicht, aber wenig durchdachte Dramaturgie.
Ja, „Félicité“hat einen verdienten Silbernen Bären als großen JuryPreis erhalten, allein für seine starke Hauptdarstellerin. Aber der Film ist deutlich zu lang und zu wirr inszeniert. Und der koreanische Beitrag „On the Beach at Night Alone“von Hong Sang-soo mit der als beste Darstellerin ausgezeichneten Kim Minhee ist ein zähes, papiernes Gedankenkonstrukt. Dass der Österreicher Georg Friedrich als bester Darsteller ausgezeichnet wurde für seine Rolle in „Helle Nächte“, war wohl als Trost gedacht für den in Berlin erfolglosen deutschen Film.
Viel Mittelmaß unter den 18 Wettbewerbs-Filmen
Man mochte in diesem Jahr nicht in der Haut der Jury-Mitglieder stecken, die es nicht einfach hatten, aus dem Meer des Mittelmaßes die richtigen Treffer zu fischen. Nur 18 Filme im Wettbewerb bei weiteren sieben, die, warum auch immer, außer Konkurrenz liefen: Das ist kein gutes Verhältnis. Ein Trash-Movie wie der plump-sexistische spanische Horrorfilm „El bar“hat in der Konkurrenz eines A-Festivals ebenso wenig etwas zu suchen wie der X-MenBlockbuster „Logan“, der einzig und allein zum Zweck hatte, mit Hugh Jackman einen vorzeigbaren Star auf den roten Teppich zu schicken.
Denn der Glamour-Faktor, der bei einem Festival eine wichtige Rolle spielt, schien in diesem Jahr matt: Wenig echte internationale Prominenz, viel deutsches TV-Personal. Was Cannes und Venedig an Relevanz der Berlinale voraus haben, Toronto und Sundance an US-Präsenz, das macht Berlin an anderer Stelle immerhin wett: Als Publikums festival ist es mit mehreren Hunderttausend Zuschauern ungeschlagen, und in den Nebenreihen Forum und Panorama sind nach wie vor Entdeckungen möglich.
„Casting“des jungen Deutschen Nicolas Wackerbarth blickt witzig und mit hohem Realitätsfaktor hinter die Kulissen eines Castings für ein Fassbinder-Remake, Zickenkrieg inbegriffen. „Tiere“ist eine versponnene österreichisch-schweizerische Fantasy-Geschichte, die dem Zuschauer nach und nach völlig den Boden unter den Füßen wegzieht, „The King’s Choice“zeigt die dramatische Geschichte des deutschen Einmarschs nach Norwegen 1940 und vor allem die Rolle des damaligen KönigsHaakon auf. Der Panorama Publikumspr eis träger„ Insyri arte“schildert spannend, hochdramatisch und deprimierend-realistisch einen Tag im Leben einer Familie im syrischen Bürgerkrieg.
Und dann sind da ja noch die vielen Filme, die man aus Zeitmangel nicht sehen kann. „Die Häschenschule“im Kinderprogramm war bestimmt ganz süß, „ORG“mit seinen 26 000 Schnitten in 177 Minuten Laufzeit (macht knapp 147 Schnitte pro Minute) bestimmt sehr revolutionär, „Loktak Lairembee“bestimmt der erste Film in der nordindischen Sprache Meitei.
Berlinale 2017: schwacher Wettbewerb, verdiente Preisträger. Doch am Himmel zeichnet sich ein grundlegendes Problem ab: Der Vertrag mit dem Festivalpalast läuft 2018 aus. Zwar gibt es Signale für eine Verlängerung, doch sicher ist die Situation nicht, nachdem das Haus am Potsdamer Platz derzeit außerhalb des Filmfestivals leer steht, weil dort keine Musicals mehr gespielt werden. Festivalleitung und Stadt träumen daher von einem FilmHaus mit großem Saal und Platz für die Festivalverwaltung, mit Räumen für die Deutsche Kinemathek, deren Mietvertrag am Potsdamer Platz 2025 ausläuft, und weiteren Film-affinen Institutionen. Ein passendes Grundstück nahe dem Martin-Gropius-Bau stünde zur Verfügung, erste positive politische Signale, etwa von KulturStaatsministerin Monika Grütters und von der CDU im Abgeordnetenhaus, liegen vor. An einem Konzept wird bereits gearbeitet, als erste, grobe Kostenschätzung ist von 100 Millionen Euro die Rede.