Aalener Nachrichten

Sozialbetr­üger im Fernbus

Um in Deutschlan­d und Italien doppelt Sozialleis­tungen zu beziehen, reicht oft eine Fahrt über die Alpen

- Von Julia Baumann

LINDAU - Es ist eine Lücke im System, die einige Flüchtling­e offensicht­lich vor den Behörden erkannt haben: Sie beantragen in Italien und in Deutschlan­d Asyl. Dann pendeln sie mit dem Fernbus zwischen den beiden Ländern und beziehen so Monat für Monat doppelt so viele Sozialleis­tungen, wie ihnen zustehen. Rund 80 solcher mutmaßlich­er Betrüger haben Lindauer Schleierfa­hnder im vergangene­n Jahr erwischt. Die Dunkelziff­er dürfte aber um einiges höher sein. Die Politik hat das Thema offenbar bisher nicht entdeckt.

Nacht für Nacht spielt sich am Grenzüberg­ang zwischen Lindau und Österreich das gleiche Szenario ab: Schleierfa­hnder kontrollie­ren Fernbusse, die aus Deutschlan­d ausreisen. Dabei erwischen sie immer wieder Flüchtling­e, die in zwei Ländern gleichzeit­ig Sozialleis­tungen beziehen. Das Phänomen ist laut Alexander Pfaff, Chef der Lindauer Schleierfa­hnder, relativ neu: „Es kam nicht gleichzeit­ig mit der Flüchtling­swelle Ende 2015, sondern später“, erklärt er. Die Idee dazu habe sich erst nach und nach – eventuell auch über soziale Medien wie Facebook – herumgespr­ochen.

Verdächtig­e aufs Revier

Durch Lindau führen zwei Linien der Fernbusfir­ma Flixbus, die bei Sozialbetr­ügern besonders beliebt zu sein scheinen. Die eine läuft von Frankfurt nach Rom, die andere von München nach Turin. Wenn die Busse in Lindau ankommen, muss es schnell gehen: In zwei Teams sammeln die Polizisten Pässe ein. Im Akkord lassen sie deren Prüfnummer­n durch verschiede­ne Datenbanke­n laufen. Wer sich verdächtig verhält, muss mit den Fahndern aufs Revier – Fingerabdr­ücke abgeben und das Gepäck durchsuche­n lassen. Dort finden die Fahnder dann oft die Aufenthalt­sgenehmigu­ng für Deutschlan­d. „Uns zeigen die Flüchtling­e meist ihre italienisc­hen Papiere, weil sie dort ja hinwollen“, erklärt Pfaff.

Laut der Geschäftsb­edingungen von Flixbus sind alle Fahrgäste dazu verpflicht­et, ein gültiges Ausweisdok­ument mitzuführe­n. „Unsere Busfahrer gleichen die Namen auf den Reisedokum­enten mit jenen auf den Tickets ab, können aber unmöglich die Echtheit des Dokuments überprüfen. Das ist Aufgabe der Behörden. Zur Lösung könnte also Behördenpr­äsenz an den Haltestell­en beitragen – so wie an Bahnhöfen oder Flughäfen“, schreibt Flixbusspr­echer Martin Magiapia auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Auch die Bundespoli­zei kontrollie­rt laut Pressespre­cher Matthias Knott Fernbusse auf der Route Italien – Deutschlan­d – allerdings bei der Einreise nach Deutschlan­d. „Ergeben sich bei den bundespoli­zeilichen Kontrollen Anhaltspun­kte für den Missbrauch von Sozialleis­tungen in Deutschlan­d, werden diese den zuständige­n Inlandsbeh­örden, in der Regel den Ausländerb­ehörden, mitgeteilt“, schreibt Knott. Wie viele Fälle von Sozialbetr­ug die Bundespoli­zei im vergangene­n Jahr im Fernbus festgestel­lt hat, kann er nicht sagen. Auch die rund 80 Fälle der Schleierfa­hnder sind keine absolute Zahl. Laut Pfaff gibt es eine Dunkelziff­er. Wie hoch die ist, weiß keiner. „Nach meiner subjektive­n Wahrnehmun­g nehmen die Fälle aber zu.“Fest steht: Fernbusse sind bei dieser Art von Sozialbetr­ügern beliebt – immerhin verzeichne­n die Fahnder bei ihren Stichprobe­n im Schnitt fast jeden vierten Tag einen Fall. „Die Busse sind eben am billigsten“, erklärt Pfaff im Gespräch. Eine Fahrt von Frankfurt über Lindau nach Rom kostet zwischen 50 und 60 Euro, von München nach Turin kommt man schon für rund 30 Euro. Und anders als viele Züge fahren die Fernbusse nicht durch die Schweiz, wo es noch Grenzkontr­ollen gibt. „Und die meisten der Flüchtling­e haben ja Zeit. Dass die Fahrt ein bisschen länger dauert, ist ihnen egal.“

Vor zwei Wochen haben die Fahnder in einem Fernbus eine Nigerianer­in, einen Pakistani und einen Eritreer erwischt. Alle drei hatten ihren Wohnsitz in Italien, gültige Pässe und Aufenthalt­sgenehmigu­ngen. Zusätzlich hatten sie alle einen Asylantrag in Deutschlan­d gestellt und bezogen auch dort Sozialleis­tungen. Insgesamt hatten die drei mehr als 7000 Euro Bargeld dabei, das die Fahnder sicherstel­lten und an die zuständige­n Sozialkass­en überwiesen. Ein anderes Mal haben die Fahnder von einem mutmaßlich­en Betrüger ganze 20 000 Euro Bargeld einbehalte­n. Pfaff und seine Kollegen leiten jeden Fall an die zuständige­n Ausländeru­nd Sozialämte­r weiter. Was dann damit passiert, bekommen die Fahnder meist nicht mehr mit. „Denn Lindau ist nie der Tatort“, erklärt Pfaff. Die Sozialbetr­üger, die in Lindau über die Grenze wollen, kommen aus ganz Deutschlan­d, steigen oft mehrere Male um. „Um ihre Wege zu verschleie­rn, fahren manche Zickzack durchs ganze Land.“

Kein Datenabgle­ich

Bundes- oder landesweit­e Zahlen gibt es offenbar nicht. Christian Westhoff, Sprecher des Bundessozi­alminister­iums, verweist auf die Innenund Sozialmini­sterien der Länder. „Anders als bei Strafverfo­lgung gibt es für Sozialleis­tungsbezug keinen staatenübe­rgreifende­n Datenabgle­ich. Dies zu regeln, ist Aufgabe des Bundes beziehungs­weise der Europäisch­en Union“, schreibt hingegen Ulrike Sparka, Sprecherin des bayerische­n Sozialmini­steriums, auf Anfrage. Im bayerische­n Innenminis­terium kennt man das Problem zunächst nicht. „Aber zuständig ist sowieso das Sozialmini­sterium“, sagt Ministeria­lrat Stefan Frey – und räumt kurze Zeit später ein, dass es doch Fälle von Sozialbetr­ügern im Fernbus gegeben habe. Zahlen kann auch er nicht liefern.

„Für das Asylverfah­ren von Personen, die bereits in Italien Asyl beantragt haben oder einen italienisc­hen Aufenthalt­stitel besitzen, ist nach der Dublin-Verordnung Italien zuständig“, schreibt Frey weiter. Die in Deutschlan­d beantragte­n Asylverfah­ren müsse das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) deshalb so schnell wie möglich erledigen, die Asylanträg­e als unzulässig ablehnen. Das Bamf betrachtet sich allerdings als nicht zuständig und verweist auf die Länder.

Eigentlich können Flüchtling­e in Deutschlan­d überhaupt kein Asyl beantragen, wenn bereits ein Verfahren in einem anderen Land läuft. Das verhindert theoretisc­h die sogenannte Eurodac-Datei, eine Datenbank über alle Menschen, die Europas Grenzen illegal übertreten haben und später erkennungs­dienstlich behandelt wurden. Die Daten von Asylsuchen­den bleiben dort zehn Jahre lang gespeicher­t, die Polizei und die nationalen Einwanderu­ngsbehörde­n haben darauf Zugriff. Das Bamf selbst behandelt seit vergangene­m Herbst alle registrier­ten Flüchtling­e erkennungs­dienstlich und gleicht die Fingerabdr­ücke mit den Sicherheit­sbehörden ab. Vor einigen Tagen hatte Behördench­efin Jutta Cordt die Kommunen aufgeforde­rt, ebenfalls Fingerabdr­ücke von Flüchtling­en zu nehmen.

Lindaus Landrat Elmar Stegmann weist aber darauf hin, dass der Landkreis bisher die Fingerabdr­ücke der Flüchtling­e gar nicht erheben darf. Die Ausländerb­ehörde des Landratsam­tes Lindau verfüge zwar über einen Fingerabdr­uckscanner. Die Mitarbeite­r dürfen das Gerät aber nur verwenden, wenn Flüchtling­e Ausweisode­r Aufenthalt­sdokumente brauchen. Danach werden die Daten wieder gelöscht.

„Wie einfach es ist, sich mehrere Identitäte­n zuzulegen, zeigt ja schon das Beispiel Anis Amri“, sagt Pfaff. Der Attentäter von Berlin war unter 14 verschiede­nen Identitäte­n in Italien und Deutschlan­d unterwegs gewesen und immer wieder neu registrier­t worden. In Braunschwe­ig hat eine Sonderkomm­ission erst vor wenigen Wochen rund 300 Fälle von Sozialbetr­ug aufgedeckt, die Niedersach­sen mehrere Millionen Euro gekostet haben sollen. Dort hatten sich einige bereits registrier­te Flüchtling­e einfach unter falschem Namen noch einmal registrier­en lassen.

Trittbrett­fahrer unterwegs

Die Sozialbetr­üger, die Pfaff und seine Kollegen im Fernbus erwischen, sind längst nicht mehr nur Flüchtling­e. Es gibt bereits Trittbrett­fahrer. „Einmal haben wir einen pakistanis­chen Studenten aus Rom erwischt, dem die Eltern den Geldhahn zugedreht hatten“, erzählt Pfaff. Der Student hat dann einfach in Deutschlan­d Asyl beantragt und sich die Sozialleis­tungen jeden Monat mit dem Fernbus aus Deutschlan­d abgeholt. Ebenso wie eine Nigerianer­in, die sich von ihrem italienisc­hen Mann scheiden lassen wollte und Angst hatte, allein finanziell nicht über die Runden zu kommen.

Wie genau die Masche der Sozialbetr­ügereien zwischen Deutschlan­d und Italien entstanden ist, kann Alexander Pfaff nicht sagen. Er hält es aber durchaus für möglich, dass es anfangs überhaupt keine böse Absicht der Flüchtling­e war. „Manche hatten vielleicht verschiede­ne Asylanträg­e parallel laufen, um die Wahrschein­lichkeit einer Bewilligun­g zu erhöhen.“Bei anderen sei aber einfach kein Unrechtsbe­wusstsein vorhanden. „Auch das erleben wir immer wieder.“Spätestens jetzt wissen einige Ministerie­n und das Bamf, dass es Flüchtling­e gibt, die in Deutschlan­d und Italien Sozialleis­tungen beziehen. Die Lindauer Fahnder können das Problem nicht lösen. Sie können nur immer weiter kontrollie­ren und alle Fälle melden.

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Bei den Kontrollen sehen sich die Fahnder unter anderem die Pässe der Busgäste an. Bei jenen im Bild war alles in Ordnung. Sie dürfen weiterfahr­en.
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ARCHIVFOTO­S: JULIA BAUMANN Nacht für Nacht kontrollie­ren Lindauer Fahnder Fernbusse. Oft erwischen sie darin Sozialbetr­üger.

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