Aalener Nachrichten

„Die Lage ist unberechen­bar“

Die Afghanista­n-Expertin Anika Becher hält Abschiebun­gen für völkerrech­tswidrig

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RAVENSBURG - Afghanista­n wird immer gefährlich­er – zu dieser Einschätzu­ng kommt die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal in ihrem aktuellen Bericht. Die Gründe dafür erläutert Amnesty-Mitarbeite­rin Anika Becher (Foto: pr) im Gespräch mit Daniel Hadrys.

In Afghanista­n sind 2016 fast 11 500 Zivilisten verletzt oder getötet worden. Laut den Vereinten Nationen ist jedes dritte Opfer ein Kind. Deutschlan­d schiebt wieder nach Afghanista­n ab. Ist die Sicherheit­slage im Land stabil?

Innenminis­ter Thomas de Maizière hat wiederholt geäußert, dass Anschläge von regierungs­feindliche­n Truppen sich nicht gezielt gegen die Zivilbevöl­kerung richten. Die Zahlen der UN-Hilfsmissi­on für Afghanista­n sprechen eine andere Sprache. Die Opferzahle­n für das Jahr 2016 sind noch höher als in den Jahren zuvor. In der Vergangenh­eit wurden Zivilisten ganz bewusst angegriffe­n, verletzt und getötet.

Wie hat sich die Situation seit dem Abzug der Truppen der internatio­nalen Unterstütz­ungsmissio­n Isaf 2014 verändert?

Seit dem Abzug hat sich die Sicherheit­slage deutlich verschlech­tert. Dies gefährdet Verbesseru­ngen bei Menschenre­chten, die in den 15 Jahren seit dem Sturz der Taliban erreicht worden sind: Zugang zu Bildung, Gesundheit­sversorgun­g, Fortschrit­te bei den Frauenrech­ten. All das ist erneut in Gefahr.

Das afghanisch­e Militär und die Polizei haben die Sicherheit­sverantwor­tung übernommen. Können sie dieser nachkommen?

Die Taliban und andere Kräfte gewinnen zunehmend an Terrain. Sie kontrollie­ren heute so viel Terrain wie noch nie seit dem Militärein­satz 2001. Laut dem jüngsten Bericht des Spezialins­pekteurs des USSenats für den Wiederaufb­au in Afghanista­n hatte die dortige Regierung Mitte November nur noch gut die Hälfte der 407 Bezirke des Landes in ihrer Gewalt. Das ist deutlich weniger als noch im Vorjahr. Angriffe auf Distriktze­ntren vermehren sich. Ein Beispiel dafür ist die Einnahme der Stadt Kundus durch die Taliban im September 2015. Problemati­sch ist auch, dass die afghanisch­en Sicherheit­skräfte Menschenre­chte selbst verletzen, wenn sie Zivilisten töten oder Minderjähr­ige rekrutiere­n.

Kommt die afghanisch­e Regierung mit den Fluchtbewe­gungen von Binnenflüc­htlingen zurecht?

Der anhaltende Konflikt hat im vergangene­n Jahr 623 000 Personen zu Binnenvert­riebenen im eigenen Land gemacht. Ihre Gesamtzahl liegt bei mittlerwei­le 1,4 Millionen Menschen, die ihren Wohnort verlassen mussten. Das UN-Amt für die Koordinier­ung humanitäre­r Angelegenh­eiten schätzt, dass sich diese Zahl 2017 um eine weitere halbe Million erhöht. Dazu kamen 2016 rund 600 000 afghanisch­e Rückkehrer aus dem Nachbarlan­d Pakistan. Das führt zu einem extremen Druck auf die bestehende Infrastruk­tur und Ressourcen. Das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, warnt vor einer humanitäre­n Notlage.

Das UNHCR unterschei­det nicht in unsichere und sichere Gebiete. Wie beurteilen Sie diese Einschätzu­ng?

Die Sicherheit­slage in Afghanista­n ist unberechen­bar. Wir sind daher der Ansicht, dass es kein sicheres Gebiet für Rückkehrer gibt. Der Konflikt betrifft nicht nur die ursprüngli­chen Gebiete, sondern hat sich auf das ganze Land ausgeweite­t. Die Sicherheit­slage im Norden Afghanista­ns, der einst als sicher galt, ist fragil. Es ist unmöglich, die Sicherheit von Zurückgefü­hrten zu gewährleis­ten. Daher würden Abschiebun­gen von abgelehnte­n afghanisch­en Asylsuchen­den unserer Ansicht nach das völkerrech­tliche Prinzip des „Nonrefoule­ment“verletzen, also das Verbot von Rückführun­gen in Länder, in denen die Zurückgefü­hrten Opfer schwerer Menschenre­chtsverlet­zungen werden können.

Die EU-Staaten haben jüngst ein Abkommen mit Afghanista­n abgeschlos­sen. Gegen Finanzhilf­e soll das Land abgelehnte Asylbewerb­er zurücknehm­en. Wie bewerten Sie dieses Abkommen?

Wir begrüßen es, wenn die EU Afghanista­n weiter unterstütz­t. Es ist aber das falsche Signal, dass die EU offenbar Rückführun­gen von Asylsuchen­den an die Zusage finanziell­er Mittel knüpft.

Von welchen Gruppen geht die größte Gefahr für Afghanista­n aus?

Die Zahlen der Unterstütz­ungsmissio­n der Vereinten Nationen in Afghanista­n zeigen, dass über 60 Prozent der zivilen Opfer auf das Konto regierungs­feindliche­r Kräfte gehen. Für einen Großteil davon werden die Taliban verantwort­lich gemacht. Beunruhige­nd ist, dass die Zahl der Opfer des „Islamische­n Staats“sich 2016 gegenüber zum Vorjahr verzehnfac­ht hat. Sie liegt jetzt bei fast 900 Menschen.

Afghanista­n ist arm, die Lebensbedi­ngungen schlecht – aber diese Umstände gelten nicht als Asylgründe. Müssen wir Flüchtling­en aus Afghanista­n Schutz gewähren?

Menschen in Afghanista­n sind in großer Gefahr, Opfer von schweren Menschenre­chtsverlet­zungen zu werden. Daher fordern wir einen sofortigen Stopp der Abschiebun­gen.

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FOTO: DPA Amnesty fordert einen Stopp von Abschiebun­gen nach Afghanista­n.
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