Abheben mit Schulz
Sozialdemokraten erleben Höhenflug mit ihrem Spitzenkandidaten – Agenda bleibt unscharf
BERLIN - Erstmals seit zehn Jahren liegt die SPD nun auch im ARD„ Deutschlandtrend “vor der Union. Vier Punkte haben die Sozialdemokraten binnen zwei Wochen hinzugewonnen. Sie haben mit 32 Prozent nun einen Punkt Vorsprung vor CDU und CSU, die drei Punkte einbüßten. Ein Beben geht durch die politische Landschaft, seitdem die Sozialdemokraten Martin Schulz vor vier Wochen zu ihrem Kanzlerkandidaten gekürt haben und Parteichef Sigmar Gabriel das Feld geräumt hat.
Wie Phönix aus der Asche schwingt sich die jahrelange 20-Prozent-Partei Woche für Woche zu neuen Höhen auf. Nach den Grünen will nun auch die Linkspartei so schnell wie möglich auf den Zug aufspringen: „Martin Schulz ist zur Projektionsfläche von Hoffnungen geworden“, sagt Linken-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht. Sollte mit ihm eine „friedliche Außenpolitik “machbar sein, „dann halte ich eine Mitte-links-Koalition für möglich“.
So stark die Hoffnungen sind, die Schulz entfacht hat, so unscharf bleibt bisher sein Programm. Er lässt sich als neuer Robin Hood feiern, als Held der Arbeiter. Dabei scheint die Schulz-Agenda vor allem in der Rückabwicklung der Agenda 2010 zu bestehen, in „Korrekturen “an den Reformen der Regierung von Gerhard Schröder, die mit dazu beigetragen hatten, Deutschland aus der Krise zu holen.
Viele schöpfen Leistung nicht aus
Schulz’ erster Aufschlag: Die Zahlung des Arbeitslosengeldes zu verlängern, damit vor allem ältere Arbeitnehmer nicht in Hartz IV abgleiten. Damit trifft Schulz einen Nerv beim Volk: 65 Prozent stehen hinter dem Plan. Dabei ist die Zahl der Menschen, die von einer Verlängerung der Zahlung profitieren würden, begrenzt. Von den gut 220 000 über 55-Jährigen, die im vergangenen Jahr Arbeitslosengeld I bezogen, nahm der Durchschnitt die Leistung nur etwa 210 Tage in Anspruch – und damit viel kürzer, als ihm zustünde. Das ergibt eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt. „Wer jetzt wie Schulz mit großer Geste auftritt, bei dem muss man den Eindruck haben, er ist sehr lange außerhalb des Landes gewesen und hat Befunde, die an der Realität vorbeigehen“, kritisiert Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW).
Auch Schulz’ zweiter Aufschlag, die Kampfansage an den vermeintlichen Trend zu befristeten Arbeitsverträgen, bedient zwar das Ungerechtigkeitsgefühl, trifft jedoch nur in Teilen die Realität. 40 Prozent der 25- bis 35-jährigen Arbeitnehmer seien betroffen, hatte Schulz zu Wochenbeginn behauptet. Tatsächlich sind es nur 13,8 Prozent, wie das Statistische Bundesamt klarstellte. Malt Schulz bewusst schwarz, um sich zum Retter des bedrohten Sozialstaates aufzuschwingen? „Herr Schulz versucht, die Ungerechtigkeitsdebatte so weit zu treiben, dass wir alles aufgeben würden, was uns fit gemacht hat. Das kann nicht gut gehen!“, warnt jedenfalls Hüther.
Beim Thema Rente hat Schulz das Ziel ausgerufen, das Rentenniveau bei 46 Prozent zu stabilisieren. Auch das ist ein Signal: Mit ihm als Kanzler werde die Altersarmut bekämpft, der soziale Abstieg verhindert. Freilich würden dadurch viele Milliarden Euro an Beitrags- und Steuerzahlungen auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen. Dass die SPD zudem die Managerbezüge deckeln will, ist ein taktischer Schachzug in einer Zeit, in der horrende Boni für Skandal-Manager wie beim Volkswagen-Konzern die Volksseele hochkochen lassen. Die Union ist unter Zugzwang, ringt um eine einheitliche Haltung.
Parteienforscher Jürgen W. Falter sieht in Schulz einen geschickten „Sozialpopulisten“. Beim Thema soziale Gerechtigkeit grabe er nicht nur der Union, sondern auch Grünen und Linken das Wasser ab, sagte Falter im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Aber wird es Schulz gelingen, das Tempo zu halten? Nehmen ihm die Menschen auf Dauer ab, dass er den Sozialstaat stärken kann, ohne die Wirtschaftsdynamik abzuwürgen? Diese Fragen werden sich erst im September beantworten lassen.