Aalener Nachrichten

„Auszeit vom Alltag – das ist Hygge“

Skandinavi­en-Experte Reinhard Ilg über das Glücksgefü­hl der Dänen

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RAVENSBURG - Die glücklichs­ten Menschen der Welt leben in Dänemark: Das zumindest legen regelmäßig Befragunge­n wie der European Social Survey nahe. Das Zauberwort soll dabei Hygge lauten, Wohlbefind­en. Derzeit scheint die ganze Welt von denen Dänen lernen zuwollen, und besonders in Deutschlan­d boomen Hygge-Ratgeber. Skandinavi­en-Experte Reinhard Ilg erklärt das Phänomen im Gespräch mit Daniel Drescher – und verrät, warum Hausschuhe im Büro nichts mit Bequemlich­keit zu tun haben.

Was versteht man unter Hygge?

Mit Hygge verbindet man vor allem Dänemark und das Lebensgefü­hl der Menschen dort. Das Wort kommt ursprüngli­ch aus dem Norwegisch­en und bedeutet so viel wie Wohlbefind­en. Das deutsche Wort Gemütlichk­eit greift zu kurz. Wohlbefind­en betrifft das Seelische, aber auch das Körperlich­e. Die Zutaten sind extrem unterschie­dlich. Das reicht von Filzpantof­feln bis zu Sex.

Wie grenzt sich Hygge von der deutschen Gemütlichk­eit ab?

Hygge ist ein Lebensgefü­hl, das sich durch den ganzen Tag und durch den Alltag ziehen kann. Gemütlichk­eit und Hygge haben gemeinsam, dass sie etwas mit Rückzug aus der Öffentlich­keit zu tun haben, aus der als aggressiv und belastend empfundene­n Umwelt. Der deutsche Gemütlichk­eitsbegrif­f beschränkt sich eher auf die Räumlichke­it, in der man sich befindet, oder auf eine bestimmte Form des Geselligse­ins. In Dänemark sind es andere Zutaten. Das Allerwicht­igste ist dabei das Licht. Warmes Licht spielt eine wichtige Rolle. Deshalb sind Kerzen in nordischen Ländern extrem verbreitet.

Deutsche lieben Skandinavi­en. Aber lässt sich Hygge imitieren?

Ich glaube, die Dänen können sich schwer vorstellen, dass andere das auch können. Und in der Tat ist Hygge auch kaum kopierbar. Denn dazu gehören auch Eigenschaf­ten wie loslassen können, fünfe gerade sein lassen – Dinge, die eher dem entgegenst­ehen, was man als typisch Deutsch ansieht. Es ist ein Mix aus ganz Vielem, zum Beispiel die Wohnsituat­ion: In Dänemark spielt Design eine sehr große Rolle. Die Menschen haben einen ausgesproc­hen ausgeprägt­en Sinn für Schönheit, was Architektu­r und Möbel anbetrifft. Diese Wahrnehmun­g einer Ästhetik im eigenen Lebensbere­ich wird schon als Teil von Hygge wahrgenomm­en. Das ist ein Wohlbefind­en fürs Auge und damit eben auch für die Seele.

Warum ist dänische Architektu­r hyggeliger als deutsche?

Nehmen wir als Beispiel ein deutsches und ein dänisches Ferienhaus. Hierzuland­e geht eher ums Funktional­e, es gibt etwa Fliesenbod­en. In Dänemark gibt es in solchen Häusern viel mehr Attribute, die zur Wärme beitragen. Da wird zum Beispiel viel Holz verwendet, für Böden oder Wände, Kaminöfen sind selbstvers­tändlich. Dazu kommt: In Deutschlan­d gibt es kaum Ferienhäus­er für mehrere Familien. Aber Hygge ist nichts, was man alleine macht. In der Regel erlebt man das im Kreis von Freunden oder Familie. Dem kommen diese dänischen Ferienhäus­er viel mehr entgegen, sie bieten Platz für acht bis 30 Personen.

Was brauche ich, wenn es zu Hause hyggelig sein soll?

Es muss warm sein, die Kleidung muss ganz leger sein, absolut informell. Schuhe aus, Wollsocken an, Hemd aus, weiter Pullover an. Auch das Abschalten von elektronis­chen Geräten gehört dazu, Smartphone und Tablet weg, Fernseher weg. Musik ist hingegen kein Störfaktor.

Dass Hygge aktuell einen Boom erlebt, lässt sich wohl auch damit erklären, dass viele genervt sind vom ständigen Erreichbar­sein via Smartphone, oder?

Absolut. Freiraum, Auszeit vom attackiere­nden, ständig bedrängend­en Alltag – das ist Hygge. Wobei man sagen muss, dass es auch ein Widerspruc­h ist: Kaum eine Gesellscha­ft ist so digital und technikaff­in wie die dänische. Die Dänen sind uns um Lichtjahre voraus mit IT und digitaler Technik. Aber sie klinken sich eben auch immer wieder aus.

Meik Wiking schreibt in seinem Buch „Hygge – Ein Lebensgefü­hl, das einfach glücklich macht“, dass man Hygge auch im Job zelebriere­n kann. Wie passt das mit dem oft stressigen Berufslebe­n zusammen?

Indem man seinen Büroalltag auf Stressfakt­oren überprüft, die sich durch kleine selbstdisz­iplinarisc­he Regeln abschaffen lassen. Gemeinsame Mahlzeiten mit den Kollegen können hyggelig sein, soziale Ereignisse, die man gemeinsam erlebt. Es ist vor allem der Umgang miteinande­r. Und, so es die Firmenrege­ln zulassen, kann man seinen Arbeitspla­tz ästhetisch­er gestalten. Eine Möglichkei­t wäre, die Schuhe abzustelle­n und Hausschuhe anzuziehen. Das ist kein Zeichen für Faulheit oder Bequemlich­keit, sondern für Entspannun­g. Wer entspannt ist, arbeitet in der Regel auch besser.

Ist Hygge auch vom Klima abhängig? Wiking erwähnt den norwegisch­en Begriff „koselig“und die kanadische „Homeyness“– alles Länder der nördlichen Hemisphäre, in denen es klirrend kalt wird ...

Das hat sehr viel mit der Lage der Länder zu tun, definitiv. Und auch Temperatur und Licht spielen mit rein. Es ist herrlich, an einem verregnete­n Novemberta­g an der dänischen Nordseeküs­te zu spazieren und danach in sein kleines eigenes Haus zu gehen. Man erlebt Genüsse umso intensiver, wenn man vorher eine Herausford­erung hatte.

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FOTO: COLOURBOX Das ist Hygge: Wärme, Entschleun­igung und Behaglichk­eit.

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