Aalener Nachrichten

Die Schatten der Vergangenh­eit

Jeder Siebte in der Kindheit missbrauch­t – Universitä­t Ulm legt neue Studie vor

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Sechs Jahre nach dem Aufdecken mehrerer Missbrauch­sskandale in Deutschlan­d hat sich in der Gesellscha­ft augenschei­nlich noch nicht viel bewegt. In einer neuen Studie berichtet fast jeder Siebte von sexuellen Übergriffe­n in der Kindheit.

Grau fühlt es sich an. Und tot. Es ist der Teil der Seele, in dem sich bei der fast 50-Jährigen die Erinnerung­en an zwei Männer eingegrabe­n haben. Als Kind und Teenager küssten sie diese Männer immer wieder – gegen ihren Willen. Einer ist heute Ehrenbürge­r ihrer Heimatstad­t. „Später habe ich über Jahre Typen angezogen, die mich emotional oder physisch missbrauch­t haben“, sagt die Frau, die ihren Namen nicht nennen will. Sie ist kein Einzelfall. Eine repräsenta­tive Studie der Universitä­t Ulm, die am Donnerstag in Berlin vorgestell­t wurde, hält der Gesellscha­ft in Deutschlan­d einen Spiegel vor: Fast jeder siebte Befragte spricht offen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Fast ein Drittel hat generell Gewalt erfahren.

Harter Tobak

Jörg Fegert weiß, dass das harter Tobak ist. Er ist Spezialist für Kinderund Jugendpsyc­hiatrie an der Universitä­t Ulm. Die Folgen von Missbrauch­s- und Gewalterfa­hrungen sieht er jeden Tag. Auch darum wollte er genau wissen, was in der Gesellscha­ft los ist – und ob sich seit 2010 etwas verändert hat.

Damals kochte in Deutschlan­d der Missbrauch­sskandal in der katholisch­en Kirche hoch, gefolgt von privaten Schulen und Vereinen. Es war wie ein Urknall. Tausende Menschen begannen über Missbrauch­serfahrung­en zu reden. Denn sie hatten das erste Mal das Gefühl, dass ihnen jemand glaubt. Eine repräsenta­tive Umfrage der Uni Leipzig lieferte 2011 konkrete Zahlen: Jeder achte Bundesbürg­er (12,6 Prozent) sprach von sexuellen Übergriffe­n in der Kindheit. Haupttator­t, das zeigten andere Studien, war die Familie.

Offensicht­lich hat sich bisher wenig geändert. „Es gibt keine Entwarnung. Die Zahlen bewegen sich weiter auf hohem Niveau“, sagt Fegert.

Er hat noch eine Ziffer in petto. „Die Auswirkung­en von Vernachläs­sigung und Missbrauch sind kurzfristi­g schon katastroph­al“, ergänzt er. „Aber erst, wenn man das auf den gesamten Lebenslauf rechnet, lässt sich die gesamte Dimension erfassen.“Die Trauma-Folgekoste­n lägen in Deutschlan­d bei elf Milliarden Euro – im Jahr.

Zu wenig Prävention

Experten bemängeln, dass für die Prävention nicht genug getan werde. Sexueller Missbrauch sei kein Randthema, sagt Matthias Katsch, der half, den Missbrauch­sskandal am Berliner Canisius-Kolleg 2010 aufzudecke­n. Die Folgen beeinfluss­ten das Leben. Nicht nur das der Betroffene­n, sondern auch ihrer Familien, Partner und Kinder. Und der Hilfebedar­f sei enorm hoch. Doch auf die Bewilligun­g von Therapien warten Betroffene oft mehr als ein Jahr.

Die eingangs erwähnte 50-Jährige begann vor 20 Jahren eine Traumather­apie – auf eigene Kosten. „Danach fühlte ich mich endlich frei“, sagt sie. Im April will sie heiraten. Doch es bleibt noch etwas – ihr Beruf. „Da fühle ich mich oft wie gelähmt, wenn ich angegriffe­n werde. Ich kann nicht sofort Grenzen setzen. Wie früher bei den Männern.“Manchmal will sie einfach nur kündigen.

Jörg Fegert plädiert dafür, die Studie alle fünf Jahre zu wiederhole­n. Er will wissen, ob sich in der Gesellscha­ft etwas ändert. Die jüngste Untersuchu­ng hat er aus Uni- und Landesmitt­eln gestemmt. Bundesgeld­er für diese Forschung fände er weitaus angemessen­er.

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FOTO: DPA Sexueller Missbrauch traumatisi­ert die Menschen. Doch bis heute wird zu wenig getan für die Opfer.

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