Alice im Neuland
„You Are Wanted“soll die deutsche Serienlandschaft prägen
Mit „You Are Wanted“startet die erste in deutscher Sprache entwickelte Serie des Streaminganbieters Amazon Prime Video. Mit dem Cyberthriller wagt sich der deutsche Schauspieler Matthias Schweighöfer als Regisseur, Hauptdarsteller und Produzent in Personalunion auf ungewohntes Terrain. Denn der deutsche Fernsehmarkt ist für vieles bekannt – nur nicht dafür, international erfolgreiche Qualitätsserien fürs Netz herzustellen.
In den vergangenen Jahren haben Streamingdienste im Netz die Serienlandschaft verändert. Immer mehr Nutzer schauen bei Anbietern wie Netflix (93 Millionen Kunden weltweit) oder Amazon Prime Video (Schätzungen zufolge 60 Millionen Nutzer) Serien und Filme an. Sie genießen, dass sie nicht an die fest vorgegebenen Zeiten der Fernsehsender gebunden sind, sondern sich als Programmdirektor betätigen können.
Das Warten hat ein Ende
Zugleich muss man nicht mehr eine Woche lang auf die neue Episode warten, wenn im Netz ganze Staffeln abrufbar sind. Und die Anbieter haben sich längst zu Produzenten entwickelt, die eigene Inhalte für ihre Plattformen auf den Markt bringen. Mit Erfolg: Bei der jüngsten OscarVerleihung räumten Amazon und Netflix ab. Amazon erhielt zwei Oscars für „Manchester by the Sea“, einen weiteren Oscar gab es für das iranische Drama „The Salesman“. Konkurrent Netflix gewann mit „The White Helmets“die Auszeichnung für die beste Dokumentation.
Deutschland hinkt bislang hinterher. Mit „You Are Wanted“will man nun aber endlich auf dem internationalen Markt mitspielen. Die Nutzer werden seit Wochen mit kleinen Vorschau-Schnipseln und Countdown-Einblendungen heißgemacht. Amazon kündigt vollmundig an, „in über 200 Ländern und Territorien weltweit“sei Schweighöfers Serie demnächst zu sehen. Dazu gehörten auch die Antarktis, Ost-Timor oder die zu Neuseeland gehörenden Tokelau-Atolle, nicht aber Nordkorea oder Iran. Die Serie soll in englischer, französischer, italienischer und spanischer Synchronfassung verfügbar sein. Zusätzlich bietet Amazon Untertitel auf Portugiesisch, Hindi und Japanisch an.
Solide Thrillerkost
Die Story ist im Berlin der Gegenwart angesiedelt. Der erfolgreiche Hotelmanager Lukas Franke (Matthias Schweighöfer) führt ein trautes Familienleben mit seiner Frau Hanna (Alexandra Maria Lara) und seinem Sohn. Doch die Harmonie bekommt Sprünge, als ein mysteriöser Hacker den biederen Familienvater ins Visier nimmt. Plötzlich interessiert sich das LKA für Franke, weil er anscheinend in einem Baumarkt Chemikalien zum Bombenbau gekauft haben soll – und tatsächlich ist er auf den Bildern einer Überwachungskamera zu sehen, obwohl er nie dort war. Wegen zugesandter Nacktbilder unterstellt Hanna ihrem Mann eine Affäre mit einer anderen Frau; die Kamera des Tablets nimmt heimlich Bilder des Sohnes auf: Franke muss den digitalen Identitätsdieb ausfindig machen, wenn er sein Leben nicht in Scherben sehen will.
Matthias Schweighöfer liefert solide Thrillerkost. Die ersten beiden der sechs Episoden halten sich nicht mit großem Vorgeplänkel auf. In blaustichig kühlen Bildern treibt Schweighöfer als Regisseur die Handlung voran – als Akteur ist er selbst der Getriebene, der wie Alice in den Kaninchenbau stürzt und sich in einer unbekannten Welt wiederfindet. Bisher sind die Charaktere zwar noch etwas flach. Warum Hanna eine Affäre vermutet, obwohl sie mit Lukas eine Bilderbuchbeziehung führt, bleibt beispielsweise unklar. Doch die Cliffhanger funktionieren, am Ende der Folge will man weitergucken.
Wachsamkeit fördern
Dass die Hacker-Thematik und die Gefahren der digitalen Welt sehr plakativ dargestellt werden, muss vielleicht so sein. Denn Überwachungsskandale um NSA und CIA lassen die Deutschen ja überraschend kalt.
Unwahrscheinlich ist, dass „You Are Wanted“ein internationaler Megaerfolg der Marke „Breaking Bad“wird. Und auch das Cyberthema haben US-Serien wie „Mr. Robot“mit mehr Tiefgang aufgegriffen. Trotzdem eine respektable Produktion – und für Schweighöfer der Versuch, wegzukommen vom Image des gutmütigen Trottels.