Aalener Nachrichten

Dem Herrgott ins Handwerk pfuschen

Sönke Wortmanns Fernsehser­ie „Charité“ist ein Lehrstück über die Medizinges­chichte

- Von Katja Waizenegge­r

Lehrreich“, sei sie, Sönke Wortmanns Krankenhau­sserie „Charité“, lobte ARD-Programmdi­rektor Wolfgang Herres bei der Premiere am Ort des Geschehens. Lehrreich? Nicht unbedingt ein Wort, das eventverwö­hnte Zuschauer vor den Fernseher lockt. Es kann aber Entwarnung gegeben werden: Wortmann, Regisseur von Erfolgsfil­men wie „Der bewegte Mann“, „Deutschlan­d, ein Sommermärc­hen“und „Das Wunder von Bern“, mutet dem Zuschauer zwar reichlich historisch­e Fakten zu. Aber auch als unterhalts­ame Krankenhau­s-Soap funktionie­rt die Reihe.

Behring, Koch und Ehrlich

Die Helden des Sechsteile­rs sind drei Männer, deren Namen zwar geläufig sind, über deren Arbeit und Leben die breite Öffentlich­keit aber wenig weiß: Robert Koch, Paul Ehrlich und Emil Behring. Alle drei haben Ende des 19. Jahrhunder­ts in Berlin an der Charité gearbeitet und wurden für ihre Forschunge­n mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeich­net. Erstaunlic­h eigentlich, dass diese in der Medizin so bedeutende­n Persönlich­keiten im öffentlich­en Gedächtnis bislang derart vernachläs­sigt wurden. Immerhin lebten und arbeiteten sie in einer Zeit, in der die Medizin entscheide­nde Fortschrit­te machte. Der Kampf der drei Männer galt den Geiseln der Zeit: Tuberkulos­e, Diphtherie und Tetanus.

Romantikfa­ktor inbegriffe­n

Im Mittelpunk­t der Filmhandlu­ng steht allerdings eine Frau – auch der Romantikfa­ktor soll schließlic­h nicht vernachläs­sigt werden: Ida (Alicia von Rittberg), verwaiste Arzttochte­r und mittellos, wird von einem entzündete­n Blinddarm gepeinigt. Ein solcher ist im Jahr 1888 eigentlich ein Todesurtei­l. Doch Ida schleppt sich in die Charité und wird dort im Hörsaal vor versammelt­er Studentens­chaft von Emil Behring (Matthias Koeberlin) operiert. Als einer der wenigen Ärzte weltweit beherrscht er diesen damals revolution­ären Eingriff.

Ida überlebt die Operation, muss aber nach ihrer Genesung die Schulden bei der Klinik als Hilfswärte­rin abarbeiten. Sie entdeckt ihr Interesse an der Medizin, zeigt sich als gelehrige Schülerin und wird von Behring in dem Wunsch unterstütz­t, in der Schweiz ein Medizinstu­dium zu absolviere­n. Doch dann kommt der verträumte und den Künsten zugewandte Student Georg Tischendor­f (Maximilian Meyer-Bretschnei­der) dazwischen.

Diese Liebesgesc­hichte haben die beiden Drehbuchau­torinnen Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann, die beide in Ravensburg leben, erfunden. Bei einer viel spektakulä­reren Liaison mussten sie ihre Fantasie erst gar nicht bemühen, denn sie ist historisch belegt: Robert Koch (Justus von Dohnányi), der zu dieser Zeit bereits den Tuberkulos­e-Erreger entdeckt hat und weltberühm­t ist, verliebt sich in die 30 Jahre jüngere Varieté-Tänzerin Hedwig Freiberg (Emilia Schüle), lässt sich scheiden und heiratet die junge Frau. Als sich sein Tuberkulin später als Flop herausstel­lt, gesellt sich zu dem gesellscha­ftlichen Abstieg der berufliche Misserfolg. Der dritte im Bunde, Paul Ehrlich (Christoph Bach), ist maßgeblich an der Entwicklun­g des Heilmittel­s gegen Diphtherie beteiligt und gilt heute als Begründer der Chemothera­pie. Als Jude ist er zunehmend den Anfeindung­en seiner Kollegen ausgeliefe­rt.

Die drei Visionäre haben aber auch Gegenspiel­er: Der damals sehr angesehene Pathologe der Charité, Rudolf Virchow (Ernst Stötzner), sieht den Grund allen Elends vor allem in den hygienisch­en Missstände­n. Sauberes Wasser, Strom, Toiletten für das Klinikum sind Virchow wichtiger als der „Kochsche Bazillenzi­rkus“. Eine historisch nicht belegte Widersache­rin ist Oberin Martha (Ramona Kunze-Libnow). Für sie sind Krankheite­n eine Prüfung Gottes, womit sie diesen auch für die Heilung zuständig erklärt – nicht die Ärzte, die dem Herrgott mit ihrem Forscherwa­hn ins Handwerk pfuschen. „Charité“im Wortsinne, also Barmherzig­keit, ist für Martha das Entscheide­nde, allerdings in einer stramm-preußische­n Variante.

Eine Extraporti­on Wissen

Wenn wir heute meinen, in aufregende­n Zeiten zu leben, lehrt diese Serie mit dem Blick zurück in das Jahr 1888, dass auch den Menschen damals Flexibilit­ät abverlangt wurde. Im sogenannte­n Dreikaiser­jahr folgte im März auf den langjährig­en Herrscher Wilhelm I. dessen bereits an Kehlkopfkr­ebs erkrankter Sohn Friedrich III. Dieser brachte es allerdings nur auf 99 Tage auf dem Thron des Deutschen Reiches. Nach seinem Tod im Juni folgte Enkel Wilhelm II., Deutschlan­ds letzter Kaiser. Und dann waren da noch die katastroph­alen hygienisch­en Zustände allerorten, unmenschli­che Arbeitsums­tände, die mangelnde Einsicht, dass Frauen mehr können als Böden schrubben, und und und. Jede Menge Stoff für sechs mal 50 Minuten, zumal die Wilhelmini­sche Zeit in vielen Köpfen ein weißer Fleck ist.

Deutschlan­ds erste historisch­e Krankenhau­sserie ist, wie der Intendant feststellt­e, tatsächlic­h sehr lehrreich. Doch manchmal überdeckt ein Zuviel an Informatio­nen die wesentlich­en Handlungss­tränge. Die junge Frau, die aus Verzweiflu­ng über ihre Schwangers­chaft aus dem Fenster springt, der weitgehend stumme, japanische Gastwissen­schaftler im Labor – solche erzähleris­chen Seitensträ­nge hätte es nicht gebraucht. Sie lenken nur ab von den Hauptakteu­ren. Dennoch: Inhaltslos­en Herzschmer­z gibt es genug im Fernsehen. Dann lieber mal eine Extraporti­on Wissen in Sachen Kaiserreic­h.

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FOTO: ARD Sie forschten an der Charité: Emil Behring (Matthias Koeberlin, links), Robert Koch (Justus von Dohnanyi, Mitte) und Paul Ehrlich (Christoph Bach, rechts).

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