Blühende Kaffeefilter-Landschaft
„Literarische Blumenwiese“ist auch ein hochaktuelles Statement als fragile Installation
AALEN - Raumgreifend, fragil, beeindruckend. Eine Art Labyrinth mit Sprüchen, manche davon wirken dadaistisch, andere philosophisch, dann wieder ein kaligraphisches Plädoyer für die Meinungsfreiheit. Die Installation „Literarische Blumenwiese“passt haargenau in die „Wortgewaltig“-Reihe. Leider, muss man sagen, ist sie auch noch brandaktuell. Denn der Schöpfer der Blumenwiese, Atif Gülücü, stammt aus Aalens Partnerstadt Antakya.
Über 1000 gebrauchte Papierfilter mit getrocknetem Kaffeesatz im Blütenkelch. Mit Draht in das „Fundament“mit Hunderten Sprüchen daraufgesteckt. Als saugten sie die Botschaften quasi aus dem Bodensatz. „Upcycling“könnte man diese Blumenwiese heute nennen. Als der Künstler, Jahrgang 1953, damit anfing, gebrauchte Kaffeefiltertüten zu sammeln, gab es dieses Wort noch lange nicht. Als seine Kaffeemaschine kaputt war, sammelte er die Tüten. 21 Jahre lang.
Europa ist ein „schweres Pflaster“
Die „Literarische Blumenwiese“ist aber nur ein Mosaik in Gülücüs Schaffen, das auf einer ganz eigentümlichen, poetischen wie gestalterischen Ästhetik fußt. Das bewies er schon vor zwei Jahren, als er auf Einladung von Aalens Oberbürgermeister seine feinsinnige musikalisch inspirierte Installation präsentierte. Seitdem, bedauert Thilo Rentschler, hat sich die weltpolitische Lage „dramatisch verändert“– auch und besonders durch die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei und dem derzeitigen Zustand Europas. Aus der ja auch als Wertegemeinschaft gedachten Union ist ein „schweres Pflaster“geworden, stellt Rentschler fast konsterniert fest. Dabei macht er bei der Ausstellungseröffnung klar: Antakya, diese Stätte der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens seit undenklichen Zeiten, unterschied sich schon immer vom Regierungssitz Ankara.
„Daphnes Selbstbildnis“
Wie ein roter Faden ziehen sich Noten und Daphne durch die Werke dieses besonderen Künstlers. „Daphnes Selbstbildnis“an der Wand im Rathausforum ist ebenfalls aus Kaffeefiltern. Das mit Daphne muss erklärt werden: Beim uralten Antakya gibt es den Ort „Harbye“. Dort steht ein Lorbeerbaum. In so einen wurde die wunderschöne Daphne verwandelt, von ihrem eigenen Vater, dem Flussgott Peneius. Nicht als Strafe oder aus Groll, sondern als Schutz für die Tochter. Ausgerechnet Gott Apollo oder Apollon, auch zuständig für Mäßigung und sittliche Reinheit, wurde nämlich von Amors Pfeil getroffen. Da war’s dann rum mit der Mäßigung. Aus dem Gott des Lichts wurde ein Stalker im Liebesrausch. Er verfolgte Daphne überall hin. Die Schöne wusste aber, dass die – zahlreichen – Liebschaften mit Apollo stets traurig enden. Deshalb wurde sie zum Lorbeerbaum metamorphosiert und hatte ihre Ruhe.
Für Gülücü ist Daphne deshalb auch persönliches Symbol „meiner unerreichbaren Lieb“. Gegen Ende der Vernissage singt er, er erinnert fast ein wenig an einen Derwisch. Dann ein passender Kontrast, der so passt wie diese Installation zur aktuellen Tagespolitik – das Duo „Zweipack“(Christian Bolz und Markus Braun) stimmt mit Sax und Kontrabass sehr nahegehende, bewegende Klänge an.