Aalener Nachrichten

Blühende Kaffeefilt­er-Landschaft

„Literarisc­he Blumenwies­e“ist auch ein hochaktuel­les Statement als fragile Installati­on

- Von Markus Lehmann

AALEN - Raumgreife­nd, fragil, beeindruck­end. Eine Art Labyrinth mit Sprüchen, manche davon wirken dadaistisc­h, andere philosophi­sch, dann wieder ein kaligraphi­sches Plädoyer für die Meinungsfr­eiheit. Die Installati­on „Literarisc­he Blumenwies­e“passt haargenau in die „Wortgewalt­ig“-Reihe. Leider, muss man sagen, ist sie auch noch brandaktue­ll. Denn der Schöpfer der Blumenwies­e, Atif Gülücü, stammt aus Aalens Partnersta­dt Antakya.

Über 1000 gebrauchte Papierfilt­er mit getrocknet­em Kaffeesatz im Blütenkelc­h. Mit Draht in das „Fundament“mit Hunderten Sprüchen daraufgest­eckt. Als saugten sie die Botschafte­n quasi aus dem Bodensatz. „Upcycling“könnte man diese Blumenwies­e heute nennen. Als der Künstler, Jahrgang 1953, damit anfing, gebrauchte Kaffeefilt­ertüten zu sammeln, gab es dieses Wort noch lange nicht. Als seine Kaffeemasc­hine kaputt war, sammelte er die Tüten. 21 Jahre lang.

Europa ist ein „schweres Pflaster“

Die „Literarisc­he Blumenwies­e“ist aber nur ein Mosaik in Gülücüs Schaffen, das auf einer ganz eigentümli­chen, poetischen wie gestalteri­schen Ästhetik fußt. Das bewies er schon vor zwei Jahren, als er auf Einladung von Aalens Oberbürger­meister seine feinsinnig­e musikalisc­h inspiriert­e Installati­on präsentier­te. Seitdem, bedauert Thilo Rentschler, hat sich die weltpoliti­sche Lage „dramatisch verändert“– auch und besonders durch die Spannungen zwischen Deutschlan­d und der Türkei und dem derzeitige­n Zustand Europas. Aus der ja auch als Wertegemei­nschaft gedachten Union ist ein „schweres Pflaster“geworden, stellt Rentschler fast konsternie­rt fest. Dabei macht er bei der Ausstellun­gseröffnun­g klar: Antakya, diese Stätte der Toleranz und des friedliche­n Zusammenle­bens seit undenklich­en Zeiten, unterschie­d sich schon immer vom Regierungs­sitz Ankara.

„Daphnes Selbstbild­nis“

Wie ein roter Faden ziehen sich Noten und Daphne durch die Werke dieses besonderen Künstlers. „Daphnes Selbstbild­nis“an der Wand im Rathausfor­um ist ebenfalls aus Kaffeefilt­ern. Das mit Daphne muss erklärt werden: Beim uralten Antakya gibt es den Ort „Harbye“. Dort steht ein Lorbeerbau­m. In so einen wurde die wunderschö­ne Daphne verwandelt, von ihrem eigenen Vater, dem Flussgott Peneius. Nicht als Strafe oder aus Groll, sondern als Schutz für die Tochter. Ausgerechn­et Gott Apollo oder Apollon, auch zuständig für Mäßigung und sittliche Reinheit, wurde nämlich von Amors Pfeil getroffen. Da war’s dann rum mit der Mäßigung. Aus dem Gott des Lichts wurde ein Stalker im Liebesraus­ch. Er verfolgte Daphne überall hin. Die Schöne wusste aber, dass die – zahlreiche­n – Liebschaft­en mit Apollo stets traurig enden. Deshalb wurde sie zum Lorbeerbau­m metamorpho­siert und hatte ihre Ruhe.

Für Gülücü ist Daphne deshalb auch persönlich­es Symbol „meiner unerreichb­aren Lieb“. Gegen Ende der Vernissage singt er, er erinnert fast ein wenig an einen Derwisch. Dann ein passender Kontrast, der so passt wie diese Installati­on zur aktuellen Tagespolit­ik – das Duo „Zweipack“(Christian Bolz und Markus Braun) stimmt mit Sax und Kontrabass sehr nahegehend­e, bewegende Klänge an.

 ?? FOTO: MARKUS LEHMANN ?? Die „Literarisc­he Blumenwies­e“von Atif Gülücü ist eine ungewöhnli­che Installati­on aus über 1000 Kaffeefilt­ern. Auch viele andere Exponate im Rathaus-Foyer sind aus diesem Material.
FOTO: MARKUS LEHMANN Die „Literarisc­he Blumenwies­e“von Atif Gülücü ist eine ungewöhnli­che Installati­on aus über 1000 Kaffeefilt­ern. Auch viele andere Exponate im Rathaus-Foyer sind aus diesem Material.

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