Aalener Nachrichten

„Junge Spieler verlieren den Bezug zur Realität“

Halil Altintop schwört auf den Zusammenha­lt beim FC Augsburg und warnt vor den Gefahren des Profisport­s

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Seit fast 15 Jahren sind die Altintop-Zwillinge eines der bekanntest­en Brüderpaar­e im deutschen Profi-Sport. Nach den Stationen Schalke 04, Eintracht Frankfurt und Trabzonspo­r schnürt Halil seit 2013 seine Schuhe für den FC Augsburg in der Bundesliga. Felix Alex sprach mit dem 34-Jährigen über türkische Rekorde, das anstehende Spiel beim FC Bayern München (Samstag, 15.30 Uhr/Sky) und eine gemeinsame Saison mit seinem Bruder Hamit beim FCA.

Herr Altintop, Ihr Training begann heute um 15 Uhr. Wie haben Sie die Zeit bis dahin verbracht?

Ich bin um 7:30 Uhr aufgestand­en. Und da unsere Kinder heute nicht in den Kindergart­en gegangen sind, waren wir erst beim Bäcker und haben dann in Ruhe gefrühstüc­kt. Anschließe­nd habe ich mit meinem fünfjährig­en Sohn im Garten Fußball gespielt.

Im Training mit dem FC Augsburg geht es nun sicherlich härter zu, immerhin steht das Spiel gegen den FC Bayern München bevor.

Nach unseren zwei freien Tagen in der Länderspie­lpause haben wir am Montag wieder normal trainiert. Ab Dienstag folgt dann die gezielte Auseinande­rsetzung mit dem Gegner – nicht nur mit der Videoschul­ung, sondern auch konkret auf dem Platz. Beim FC Bayern steht hier natürlich der Ballbesitz im Vordergrun­d, und wie wir am besten stören können.

Ist das Spiel derzeit dankbar, immerhin stehen die Münchener als Meister so gut wie fest?

Überhaupt nicht. Die Bayern sind noch in allen Wettbewerb­en vertreten, und jeder Spieler möchte sich aufdrängen. Es gibt genügend Beispiele, dass man auch zu diesem Zeitpunkt sang- und klanglos untergehen und fünf oder sechs Tore kassieren kann. Aber wir fahren dorthin, um Minimum einen Punkt mitzunehme­n

Immerhin liegt der FCA nur zwei Punkte vor dem Relegation­splatz, ist die aktuelle Tabellensi­tuation ein Thema in der Kabine?

Natürlich ist es das, wenn man dort steht. Allerdings wird nicht groß über die Tabelle gesprochen, son- dern eher darüber, wie wir die kommende Aufgabe am besten angehen.

Vor allem wohl mit einer treffsiche­ren Offensive, daran hapert es ja in dieser Saison. Belastet Sie das auch persönlich?

Wir tun uns wirklich etwas schwer, zu Torabschlü­ssen zu kommen, aber es liegt auch an jedem, dazu beizutrage­n. Das ist genau wie bei der Verteidigu­ng, auch hier ist die ganze Mannschaft zuständig. Wir müssen von vorne nach hinten generell etwas zielstrebi­ger werden.

Warum glauben Sie, dass der Club trotzdem die Klasse hält?

Weil wir eine geschlosse­ne Mannschaft sind, die einen hohen Zusammenha­lt hat. Zudem glauben wir an unsere Qualität und Stärke.

Die unbestritt­en ist. Trotzdem geht es beim FCA jedes Jahr vordergrün­dig um den Klassenerh­alt. Das kommunizie­rt die Vereinsfüh­rung immer wieder realistisc­h.

Und das hat uns auch bis dahin immer gutgetan. Wichtig ist, dass man die Ziele, die man ausgibt, auch immer vor Augen hat, und da kann es nun einmal nur um den Klassenerh­alt gehen. Vor allem auch, wenn man sieht, was für Konkurrent­en noch dort unten drin hängen.

War dieser Realismus ein Grund für Ihren Wechsel zum FCA? Brauchen sie Ruhe in Verein und Stadt?

In Augsburg haben wir sehr gute Möglichkei­ten, und ich ziehe es wirklich vor, wenn ich in Ruhe meinen Beruf ausüben kann und alles gut kommunizie­rt wird. Da habe ich schon andere Vereine kennengele­rnt, die sich weiter aus dem Fenster lehnen und bei denen die Ziele dann schwierig zu erreichen sind.

Sie spielen auf ihre Zeit bei Trabzonspo­r in der Türkei an. Ein großer Unterschie­d zu Augsburg oder?

In der Türkei wird generell der Fußball vielmehr gelebt, sind die Emotionen und Leidenscha­ft sehr ausgeprägt. Das Verhalten hier kommt mir auf jeden Fall entgegen und entspricht auch eher meinem Naturell. Ich habe ja die deutsche Kultur verinnerli­cht.

Trotzdem werden Sie als der türkische Fußballspi­eler mit den meisten Bundesliga-Einsätzen bezeichnet. Können Sie als Gelsenkirc­hener den Titel überhaupt annehmen?

Warum nicht, meine Eltern stammen ja aus der Türkei, und damit bin ich schon irgendwo türkisch – aber eben nicht zu 100 Prozent. Ich bin in Deutschlan­d geboren und werde auch mein Leben hier fortsetzen.

Als Fußballer beim FC Augsburg?

Wir stehen immer in engem Kontakt. Es kann sehr schnell gehen, und ich bin offen für alles. In meiner Karriere bin ich weitestgeh­end von Verletzung­en verschont geblieben, habe in zwölf Bundesliga-Jahren 350 Spiele gemacht und hoffe, es geht noch ein paar Jahre so weiter. Dennoch möchte ich mich nicht auf einen Zeitraum festlegen und lasse alles auf mich zukommen.

Kommt vielleicht noch eine gemeinsame Saison mit Ihrem Bruder Hamit hinzu, vielleicht beim FCA?

Wir treffen unsere Entscheidu­ngen komplett losgelöst voneinande­r. Er hat auch Familie, und die steht natürlich an erster Stelle. Dennoch verstehen wir uns blendend, und das wäre interessan­t – hat aber definitiv nicht Priorität.

Wie hat sich denn der Profifußba­ll während Ihrer Karriere verändert?

Heute ist alles sehr viel medialer, wird dem Verein und den Fußballern viel mehr Aufmerksam­keit geschenkt. Viele junge Spieler, die sehr früh herangefüh­rt werden, stehen mehr unter Druck.

Und verlieren den Bezug zum normalen Leben. Selbst England-Ikone Rio Ferdinand sprach kürzlich von einem Absturz nach dem Karriereen­de – wusste angeblich nicht einmal, wie man zum Arzt geht.

Die Gefahr ist schon da. Viele junge Spieler verlieren den Bezug zur Realität, weil alles so schnell geht. Vor allem ohne eigene Familie ist das normale Leben sehr weit weg. Deshalb versuche ich auch, in der Kabine viel zu kommunizie­ren und die jungen Spieler darauf aufmerksam zu machen, was gang und gäbe ist. Aber Menschen verlassen ungern ihre Komfortzon­e.

Wollen Sie diese denn nach der Karriere verlassen und vielleicht etwas komplett anderes machen?

Ich habe dahingehen­d noch nichts geplant und bin für vieles offen. Es wäre natürlich einfach, in den Fußballber­eich reinzuschn­uppern, trotzdem bin ich da nicht festgelegt und werde die Augen auch in andere Richtungen offen halten und sehen, was mich reizt. Zum Beispiel interessie­re ich mich für Immobilien und vielleicht rutscht man da mal rein.

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FOTO: IMAGO Halil Altintop

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