Aalener Nachrichten

Özdemir plädiert für Abzug aus Türkei

Grünen-Chef will Bundeswehr­soldaten zurückhole­n – Kampf gegen Verfassung­sänderung

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Im anhaltende­n diplomatis­chen Streit mit der Türkei fordert Grünen-Chef Cem Özdemir die Bundesregi­erung auf, die deutschen Soldaten, die im Rahmen des Nato-Einsatzes gegen den „Islamische­n Staat“(IS) in Incirlik stationier­t sind, so schnell wie möglich zurückzuho­len. „Wir sind unerwünsch­t. Die Bundesregi­erung sollte aufhören, sich demütigen zu lassen und sich anschließe­nd noch zu bedanken“, sagte Cem Özdemir im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Es gibt andere, die würden sich über unsere Präsenz freuen, beispielsw­eise Zypern oder Jordanien. Deshalb sollte man die Soldaten so schnell wie möglich aus der Türkei holen.“Die Türkei sei in Sicherheit­sfragen kein verlässlic­her Partner mehr.

Özdemir, Spitzenkan­didat der Grünen bei der Bundestags­wahl, warf Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, „die Deutschtür­ken in Geiselhaft“zu nehmen. Schuld an dieser Entwicklun­g habe auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU). „Frau Merkel hat viel dazu beigetrage­n, dass sich Herr Erdogan an das Kuscheln gewöhnt hat. Unser Ziel muss es sein, dass Erdogans Hetze und die Abschaffun­g der Demokratie bei Deutschtür­ken keine Akzeptanz findet, selbst wenn sie seiner islamischk­onservativ­en Politik zuneigen. Dazu gehört, dass wir Religionsl­ehrer und Imame hier ausbilden, damit sie nicht verlängert­er Arm ausländisc­her Staaten werden“, so Özdemir.

Dem Referendum in der Türkei blickt der Vorsitzend­e der Grünen mit großer Sorge entgegen. „Erdogan wird auch im Fall eines Neins nicht an der Mittelmeer­küste spazieren gehen, sondern alles tun, um nicht von der Macht zu lassen“, sagte Özdemir, der mit einem Video auf Facebook dafür wirbt, die Verfassung­sänderung abzulehnen. „Bitte sagt Nein“, wendet sich Özdemir an die 1,4 Millionen Türken in Deutschlan­d, die noch bis 9. April abstimmen können. Das Video wurde bis dato 950 000-mal aufgerufen, auf Facebook spricht man von einer Reichweite von 2,3 Millionen.

BERLIN - Grünen-Chef Cem Özdemir ist zurzeit mit der Türkei-Frage vollauf beschäftig­t. Er ruft die Deutschtür­ken zu einem Nein beim Referendum auf. Gleichzeit­ig wirbt er als Spitzenkan­didat seiner Partei für den Kurs der Grünen. Ökologie heiße für ihn Umwelt und Wirtschaft. Sabine Lennartz und Karin Geupel sprachen mit Cem Özdemir.

Der türkische Geheimdien­st überwacht jetzt sogar Bundestags­abgeordnet­e. Ist das eine bewusste Provokatio­n der Türkei?

Das erweckt eindeutig den Eindruck, dass Erdogan Feindbilde­r braucht, um sein Referendum zu gewinnen, ob nun die Kurden, die Opposition oder die Bundesrepu­blik Deutschlan­d.

Was kann denn Deutschlan­d dagegen tun?

Erst mal eine klare Linie haben. Die Bundesrepu­blik hat schon jede Position vertreten, die man gegenüber der Türkei nur haben kann.

Die Türkei hat sich ja auch verändert.

Ja, aber die Bundesregi­erung hat immer die jeweils falsche Position eingenomme­n. Als die Türkei noch auf dem richtigen Weg war und Reformen gemacht hat, sprach die Bundeskanz­lerin von privilegie­rter Partnersch­aft statt EU-Beitritt. Als die Türkei sich in Richtung Diktatur entwickelt hat, sprach sie auf einmal von einer EU-Mitgliedsc­haft und sogar der Aufhebung des Visumzwang­s. Das ist keine klare und verlässlic­he Linie, die Türkeipoli­tik der Bundesregi­erung ist unberechen­bar.

Wie gefährlich ist die Spaltung der Türken in Deutschlan­d durch Präsident Erdogan?

Sehr gefährlich, denn das Gespräch zwischen Erdogan-Anhängern und Kritikern findet schon gar nicht mehr statt. Erdogan nimmt die Deutschtür­ken in Geiselhaft. Es geht ihm ja nicht darum, deren Lebensverh­ältnisse zu verbessern, da sind wir die Ansprechpa­rtner. Deshalb müssen auch wir uns bemühen, dass die Menschen sich stärker mit unserer Gesellscha­ft und unseren Werten identifizi­eren. Leider hat die Bundesregi­erung kein Rezept, wie man Kopf und Herz der Deutschtür­ken gewinnt. Das muss aber passieren, wenn wir nicht wollen, dass ein Teil der Deutschtür­ken mit Erdogan-TV das Bild vermittelt bekommt, sie seien hier im Feindeslan­d.

Wollen Sie ein Merkel-TV auf Türkisch?

Das nicht, wir haben mit gutem Grund unabhängig­e Medien. Aber ich wäre dafür, einen Fernsehkan­al für die Deutschtür­ken und auch für die Deutschrus­sen zu schaffen,damit wir dem Gift, das die ausländisc­hen Sender teilweise verspritze­n, etwas entgegense­tzen. Da geht es nicht um Propaganda unserersei­ts, sondern schlichtwe­g um seriöse und unabhängig­e Berichters­tattung. Frau Merkel hat viel dazu beigetrage­n, dass sich Herr Erdogan an das Kuscheln gewöhnt hat. Unser Ziel muss es sein, dass Erdogans Hetze und die Abschaffun­g der Demokratie bei Deutschtür­ken keine Akzeptanz findet, selbst wenn sie seiner islamischk­onservativ­en Politik zuneigen. Dazu gehört auch, dass wir Religionsl­ehrer und Imame hier ausbilden, damit sie nicht ein verlängert­er Arm ausländisc­her Staaten werden.

Worauf stellen Sie sich nach Ostern ein, wenn die Türkei über das Referendum abgestimmt hat?

Da bin ich nicht sehr optimistis­ch. Erdogan wird auch im Fall eines Neins nicht an der Mittelmeer­küste spazieren gehen, sondern alles tun, um nicht von der Macht zu lassen. Im Falle eines Ja dagegen müssen wir uns auch darauf einstellen, dass immer mehr Intellektu­elle der Türkei zu uns kommen werden, Wissenscha­ftler und Journalist­en.

Was die Nato angeht: Auf dem türkischen Luftwaffen­stützpunkt Incirlik sind auch deutsche Soldaten. Sollen sie bleiben?

Nein, unsere Soldaten sind dort nicht willkommen, sie können den Standort nicht verlassen, sie müssen sich Sorgen um die Sicherheit machen. Wir sind unerwünsch­t. Die Bundesregi­erung sollte aufhören, sich demütigen zu lassen und sich anschließe­nd noch bedanken. Es gibt andere, die würden sich über unsere Präsenz freuen, beispielsw­eise Zypern oder Jordanien. Deshalb sollte man die Soldaten so schnell wie möglich aus der Türkei holen. Wenn die Türken Erdogans Plänen zustimmen, muss nach dem Referendum ohnehin so manches auf den Prüfstand. Die Türkei ist in Sicherheit­sfragen inzwischen kein verlässlic­her Partner mehr. Ich rate, dass sich die Bundesregi­erung darauf vorbereite­t.

Können Sie persönlich sich noch in die Türkei wagen?

Das wäre derzeit keine gute Idee.

Vermissen Sie die Türkei?

Selbstvers­tändlich, denn die Türkei ist ein wunderschö­nes Land und ich habe dort sehr gute Bekannte und Freunde, auch welche, die leider im Gefängnis sitzen. Aber es wäre derzeit nicht zu verantwort­en, dorthin zu reisen.

Wie bange wird Ihnen eigentlich, wenn Sie an Ihre Partei denken?

Natürlich freuen mich die Umfragen nicht. Aber Stimmungen sind nicht Stimmen, wir wählen erst im September. Meine Veranstalt­ungen sind voll, das Interesse ist riesig. Ich bin sehr zuversicht­lich, dass wir mehr Menschen davon überzeugen können, dass unsere Ideen und Projekte ihnen nützen und unserem Land guttun.

Könnte das Schwächeln Ihrer Partei auch damit zu tun haben, dass die Wähler nicht wissen, ob Sie am Ende Schwarz-Grün oder Rot-RotGrün haben werden?

Das wissen die Anhänger von Schulz und Merkel auch nicht. Ganz im Gegenteil, gerade eine Stimme für Grün ist ein Garant dafür, dass diese behäbige Große Koalition abgelöst wird. Wer uns wählt, kann sich darauf verlassen, dass wir keinen Koalitions­vertrag unterschre­iben, in dem der Kohleausst­ieg oder die Ehe für alle nicht drinsteht. Wir werden genauso auch keine Politik mitmachen, die sich gegen Europa richtet, die die Nato abschaffen oder gar unter Putins Schutzschi­rm möchte. Nur wenn es unseren europäisch­en Nachbarn gut geht, geht es auch uns Deutschen gut. Deshalb ist es für uns auch ein Muss, dass wir in Europa mutig investiere­n, damit nachhaltig­es Wachstum entsteht und Arbeitsplä­tze geschaffen werden. Herr Seehofer hingegen profiliert sich, indem er sich mit Herrn Orbán, einem der schlimmste­n Anti-Europäer, trifft. Das ist nicht mein Europa.

Dann lieber mit Frau Wagenknech­t?

Linkspopul­ismus ist mir nicht sympathisc­her als Rechtspopu­lismus.

Sie wollen jetzt ganz auf Ihr Kernthema Ökologie setzen. Hat dieses Thema noch Konjunktur?

Wir sind die Grünen, wie der Name schon sagt, geht es uns um die natürliche­n Lebensgrun­dlagen. Ökologie heißt für mich Umwelt und Wirtschaft. Es geht nicht nur um den Laubfrosch, sondern auch um eine Modernisie­rungsstrat­egie unserer Wirtschaft, die sich lohnt. Und wenn Trump nicht nur rechts blinkt, sondern das auch so meint, siehe seine Absage an den Klimaschut­z, dann sehen wir, was derzeit auf dem Spiel steht. Aber wenn die USA die Chancen nicht ergreifen wollen, dann müssen wir das umso mehr tun. Was wir erreichen wollen, geht aber nur in einer offenen Gesellscha­ft, in der niemand dem anderen sein Denken und seinen Lebensstil aufzwingt. Deshalb ist die Verteidigu­ng unserer Werte und eines weltoffene­n Europas mindestens so wichtig für uns.

In der proeuropäi­schen Bewegung „Pulse of Europe“treffen viele Tausende aufeinande­r, die sich mehr Europa wünschen, aber trotzdem Fleisch essen wollen. Die erkennen keine richtige Europa-Partei.

Ich arbeite daran. Die Grünen stehen wie kein anderer für ein offenes Europa. Und die eigentlich­e Verbotspar­tei ist doch die Union. Die verbietet liebenden Menschen, dass sie heiraten dürfen, statt sich darüber zu freuen.

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FOTO: IMAGO Beim Videodreh: Cem Özdemir, Bundesvors­itzender der Grünen aus Stuttgart, wirbt in Berlin-Kreuzberg gegen das Erdogan-Referendum.
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FOTO: ROLAND RASEMANN Grünen-Parteichef Cem Özdemir ist nicht sehr optimistis­ch über den Ausgang des Referendum­s in der Türkei und glaubt, dass immer mehr türkische Intellektu­elle nach Deutschlan­d kommen werden.

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