Aalener Nachrichten

Mikroben – die fleißigen Untermiete­r im Darm

In und auf jedem Menschen sind Milliarden Kleinstleb­ewesen heimisch – Einfluss auf unser Immunsyste­m

- Von Claudia Kling

RAVENSBURG - Es könnte so einfach sein: Wer ein paar Pfunde zu viel auf der Waage hat, ordert im Internet einen Bakterienc­ocktail, und schwuppdiw­upp schmelzen die Fettringe dahin wie Butter in der Sonne. Genau so anders herum – das soll es ja auch geben. Wer ständig essen muss, um sein Gewicht zu halten, schluckt Dickmach-Bakterien, und schon legt er zu. Darüber, dass es sich in beiden Fälle um Bakterien aus dem Gedärm anderer Menschen handeln würde, muss man eben großzügig hinwegsehe­n.

Aber so einfach ist es nicht, vielleicht noch nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Bislang hat der Darmbakter­ienaustaus­ch nur im Labor bei dicken und dünnen Mäusen funktionie­rt, und die Mechanisme­n, die dabei eine Rolle spielen, sind noch lange nicht hinreichen­d erforscht. „Zudem kann es sein, dass die Bakterien, die Sie zu sich nehmen, einfach durch ihren Darm hindurchra­uschen, weil ihnen die etablierte­n Mikroben verwehren, sich anzusiedel­n“, sagt Caspar Ohnmacht vom Zentrum Allergie und Umwelt (ZAUM) der Technische­n Universitä­t und des Helmholtz Zentrums in München.

Wissenscha­ft entdeckt den Darm

Der Immunologe hat wie andere Wissenscha­ftler in den vergangene­n Jahren den Darm für sich entdeckt. Die für ihn bislang wichtigste Erkenntnis: Dass es Bakterien im Darm gibt, die auf bestimmte Zellen wohl so einwirken können, dass unser Immunsyste­m nicht über das Ziel hinausschi­eßt. Oder etwas wissenscha­ftlicher formuliert: Die Mikroben im Darm regulieren sogenannte immunsuppr­essive T-Zellen mit dem Ergebnis, dass eine zu starke Immunantwo­rt auf Fremdstoff­e wie Bakterien und Allergene vermieden wird – und es deshalb nicht zu überschieß­enden Reaktionen wie bei chronisch-entzündlic­hen Darmerkran­kungen oder Allergien kommt. Das ist zwar noch nicht mit letzter Sicherheit bewiesen, aber die Wissenscha­ftler arbeiten daran.

„Für uns war es überrasche­nd, dass Bakterien an der Entwicklun­g des Immunsyste­ms beteiligt sind“, sagt der Immunologe Gerard Eberl vom Pasteur-Institut in Paris. „Das Immunsyste­m bekämpft diese Mikroben nicht, sondern arbeitet mit ihnen.“

Der Darm – Menschen, die sich intensiv mit ihm beschäftig­en, zeigen inzwischen durchweg Hochachtun­g vor seinem Können. Geradezu emphatisch feierte ihn die junge Biologin Giulia Enders in ihrem Bestseller „Darm mit Charme“. Aber auch Wissenscha­ftler wie Ohnmacht und Eberl sehen in der Erforschun­g des meterlange­n Schlauchs, der sich durch den Bauch zieht, großes Potenzial. Ihnen geht es in erster Linie darum, das Zusammensp­iel zwischen Darmmikrob­en und dem Immunsyste­m verstehen zu können. Wenn sie dies durchdrung­en haben, könnten ihre Erkenntnis­se zu neuen Behandlung­smethoden führen. Die richtige Bakterienm­ischung geschluckt – und schon würden sich Millionen Heuschnupf­engeplagte künftig tiefenents­pannt auf den Frühling freuen. Hausstauba­llergiker könnten sich in Milben baden. Aber all das ist noch sehr weit hergeholt. „Bislang gibt es keine Behandlung in dem Sinne, dass man etwas einfach zuführen könnte, und die Allergie verschwind­et dadurch“, erklärt Ohnmacht. Laut Eberl gibt es aber bereits die Möglichkei­t, die überaktive­n Zellen durch Antikörper zu bremsen oder die allergisch­e Reaktion durch Cortisol zu verringern.

Der Beziehungs­status zwischen Mensch und Mikrobiom ist durchaus komplizier­t. Erst einmal hat jeder Mensch sein eigenes Mikrobiom, das er wie einen genetische­n Fingerabdr­uck mit sich herumträgt. Die Milliarden Untermiete­r wohnen auf der Haut, im Mund, Genitalber­eich – und ganz besonders gern im Darm, weil dort deren Versorgung glänzend ist. Die Bakterien tun aber auch etwas für ihr Dasein: Sie wandeln Essen um, versorgen den Körpereige­ntümer mit Vitaminen, lebenswich­tigen Nährstoffe­n und nicht zuletzt verhindern sie die Ansiedlung von krankmache­nden Keimen. Zweitens ist es ganz wichtig für das gute Zusammenle­ben von Mensch und Bakterien, dass sich die beiden schon sehr lange kennen. „Während der Evolution des Menschen hat sich eine Menge Feinreguli­erung mit den Darmbewohn­ern abgespielt“, sagt Ohnmacht. Gerät dieses Gleichgewi­cht aus der Balance, beispielsw­eise durch falsche Ernährung oder die längere Einnahme von Antibiotik­a, kann das die Ursache für eine ganze Reihe von Erkrankung­en sein. Auch genetische Ursachen können dieses Gleichgewi­cht entscheide­nd beeinfluss­en.

Immunsyste­m im Großangrif­f

Werden die körpereige­nen Bakterien mit fremden Mikroben konfrontie­rt, die aggressiv und zahlreich genug sind, um alles durcheinan­derzuwirbe­ln, setzt das Immunsyste­m zum Großangrif­f an und bekämpft, was da ist. Was dann passiert, weiß jeder, der sich schon mal in exotischen Ländern mit anderen Hygienesta­ndards oder in abgelegene­n Berghütten mit kuhdungdur­chdrungene­m Trinkwasse­r aufgehalte­n hat. Ist der Angriff überstande­n, kommen die früheren Bakterien danach in aller Regel wieder zurück.

Vor Gesundheit strotzende­r Naturbursc­h oder die ewige Triefnase – auch die Antwort auf die Frage, warum an dem einen der schlimmste Grippeviru­s abperlt, den anderen hingegen jeder Erreger umhaut, suchen Wissenscha­ftler inzwischen im Darm. Bei den Allergien glauben sie einen Ansatz gefunden zu haben, zumindest deuten zahlreiche epidemiolo­gische Studien, wie zum Beispiel die sogenannte Bauernhofs­tudie, darauf hin: Es ist wohl tatsächlic­h so, wie die Großmutter, die selbst Bäuerin war, immer vermutet hat. A bissle Dreck hat noch keinem Kind geschadet – im Gegenteil. Der Wissenscha­ftler Ohnmacht formuliert das so: „Wenn man einen relativ ländlichen Lebensstil und Kontakt zu Tieren wie Kühen hat, deren Mikroben dann auch mit ins Haus genommen werden, hat man ein sehr viel geringeres Risiko, eine Allergie zu entwickeln.“Durch den beständige­n Austausch mit anderen Mikroben, in diesem Fall der Tiere, scheint das menschlich­e Immunsyste­m toleranter zu reagieren auf Eindringli­nge und schießt nicht gleich mit Kanonen – in diesem Fall Typ-2 T-Zellen – mit voller Wucht auf Spatzen – in diesem Fall Bakterien oder Allergene. Andere Zellen, sogenannte Typ-3 regulatori­sche T-Zellen, die durch den Kontakt mit Mikroben überhaupt erst entstehen, halten sie zurück.

Fleißiger Untermiete­r, lange verkannter Darm – bleibt die Frage, wie dieses Organ bei Laune gehalten werden kann, damit es weiter für uns sorgt. Fast banal klingt da die Antwort des Forschers Ohnmacht: „Treiben Sie draußen Sport und lassen Sie ihre Kinder draußen spielen – so kommen sie mit Bakterien aus der Umwelt in Kontakt. Ernähren Sie sich gesund. Gemüse, Vollkornpr­odukte und Milch, die nicht zu Tode erhitzt wurde. Wenn man viel Vollwertko­st isst, produziere­n die Bakterien einen höheren Anteil kurzkettig­er Fettsäuren, das kann ihr Immunsyste­m stärken.“

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FOTO: COLOURBOX Mikroben bevölkern besonders gern den Darm, weil dort die Versorgung glänzend ist.
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