Mikroben – die fleißigen Untermieter im Darm
In und auf jedem Menschen sind Milliarden Kleinstlebewesen heimisch – Einfluss auf unser Immunsystem
RAVENSBURG - Es könnte so einfach sein: Wer ein paar Pfunde zu viel auf der Waage hat, ordert im Internet einen Bakteriencocktail, und schwuppdiwupp schmelzen die Fettringe dahin wie Butter in der Sonne. Genau so anders herum – das soll es ja auch geben. Wer ständig essen muss, um sein Gewicht zu halten, schluckt Dickmach-Bakterien, und schon legt er zu. Darüber, dass es sich in beiden Fälle um Bakterien aus dem Gedärm anderer Menschen handeln würde, muss man eben großzügig hinwegsehen.
Aber so einfach ist es nicht, vielleicht noch nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Bislang hat der Darmbakterienaustausch nur im Labor bei dicken und dünnen Mäusen funktioniert, und die Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, sind noch lange nicht hinreichend erforscht. „Zudem kann es sein, dass die Bakterien, die Sie zu sich nehmen, einfach durch ihren Darm hindurchrauschen, weil ihnen die etablierten Mikroben verwehren, sich anzusiedeln“, sagt Caspar Ohnmacht vom Zentrum Allergie und Umwelt (ZAUM) der Technischen Universität und des Helmholtz Zentrums in München.
Wissenschaft entdeckt den Darm
Der Immunologe hat wie andere Wissenschaftler in den vergangenen Jahren den Darm für sich entdeckt. Die für ihn bislang wichtigste Erkenntnis: Dass es Bakterien im Darm gibt, die auf bestimmte Zellen wohl so einwirken können, dass unser Immunsystem nicht über das Ziel hinausschießt. Oder etwas wissenschaftlicher formuliert: Die Mikroben im Darm regulieren sogenannte immunsuppressive T-Zellen mit dem Ergebnis, dass eine zu starke Immunantwort auf Fremdstoffe wie Bakterien und Allergene vermieden wird – und es deshalb nicht zu überschießenden Reaktionen wie bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder Allergien kommt. Das ist zwar noch nicht mit letzter Sicherheit bewiesen, aber die Wissenschaftler arbeiten daran.
„Für uns war es überraschend, dass Bakterien an der Entwicklung des Immunsystems beteiligt sind“, sagt der Immunologe Gerard Eberl vom Pasteur-Institut in Paris. „Das Immunsystem bekämpft diese Mikroben nicht, sondern arbeitet mit ihnen.“
Der Darm – Menschen, die sich intensiv mit ihm beschäftigen, zeigen inzwischen durchweg Hochachtung vor seinem Können. Geradezu emphatisch feierte ihn die junge Biologin Giulia Enders in ihrem Bestseller „Darm mit Charme“. Aber auch Wissenschaftler wie Ohnmacht und Eberl sehen in der Erforschung des meterlangen Schlauchs, der sich durch den Bauch zieht, großes Potenzial. Ihnen geht es in erster Linie darum, das Zusammenspiel zwischen Darmmikroben und dem Immunsystem verstehen zu können. Wenn sie dies durchdrungen haben, könnten ihre Erkenntnisse zu neuen Behandlungsmethoden führen. Die richtige Bakterienmischung geschluckt – und schon würden sich Millionen Heuschnupfengeplagte künftig tiefenentspannt auf den Frühling freuen. Hausstauballergiker könnten sich in Milben baden. Aber all das ist noch sehr weit hergeholt. „Bislang gibt es keine Behandlung in dem Sinne, dass man etwas einfach zuführen könnte, und die Allergie verschwindet dadurch“, erklärt Ohnmacht. Laut Eberl gibt es aber bereits die Möglichkeit, die überaktiven Zellen durch Antikörper zu bremsen oder die allergische Reaktion durch Cortisol zu verringern.
Der Beziehungsstatus zwischen Mensch und Mikrobiom ist durchaus kompliziert. Erst einmal hat jeder Mensch sein eigenes Mikrobiom, das er wie einen genetischen Fingerabdruck mit sich herumträgt. Die Milliarden Untermieter wohnen auf der Haut, im Mund, Genitalbereich – und ganz besonders gern im Darm, weil dort deren Versorgung glänzend ist. Die Bakterien tun aber auch etwas für ihr Dasein: Sie wandeln Essen um, versorgen den Körpereigentümer mit Vitaminen, lebenswichtigen Nährstoffen und nicht zuletzt verhindern sie die Ansiedlung von krankmachenden Keimen. Zweitens ist es ganz wichtig für das gute Zusammenleben von Mensch und Bakterien, dass sich die beiden schon sehr lange kennen. „Während der Evolution des Menschen hat sich eine Menge Feinregulierung mit den Darmbewohnern abgespielt“, sagt Ohnmacht. Gerät dieses Gleichgewicht aus der Balance, beispielsweise durch falsche Ernährung oder die längere Einnahme von Antibiotika, kann das die Ursache für eine ganze Reihe von Erkrankungen sein. Auch genetische Ursachen können dieses Gleichgewicht entscheidend beeinflussen.
Immunsystem im Großangriff
Werden die körpereigenen Bakterien mit fremden Mikroben konfrontiert, die aggressiv und zahlreich genug sind, um alles durcheinanderzuwirbeln, setzt das Immunsystem zum Großangriff an und bekämpft, was da ist. Was dann passiert, weiß jeder, der sich schon mal in exotischen Ländern mit anderen Hygienestandards oder in abgelegenen Berghütten mit kuhdungdurchdrungenem Trinkwasser aufgehalten hat. Ist der Angriff überstanden, kommen die früheren Bakterien danach in aller Regel wieder zurück.
Vor Gesundheit strotzender Naturbursch oder die ewige Triefnase – auch die Antwort auf die Frage, warum an dem einen der schlimmste Grippevirus abperlt, den anderen hingegen jeder Erreger umhaut, suchen Wissenschaftler inzwischen im Darm. Bei den Allergien glauben sie einen Ansatz gefunden zu haben, zumindest deuten zahlreiche epidemiologische Studien, wie zum Beispiel die sogenannte Bauernhofstudie, darauf hin: Es ist wohl tatsächlich so, wie die Großmutter, die selbst Bäuerin war, immer vermutet hat. A bissle Dreck hat noch keinem Kind geschadet – im Gegenteil. Der Wissenschaftler Ohnmacht formuliert das so: „Wenn man einen relativ ländlichen Lebensstil und Kontakt zu Tieren wie Kühen hat, deren Mikroben dann auch mit ins Haus genommen werden, hat man ein sehr viel geringeres Risiko, eine Allergie zu entwickeln.“Durch den beständigen Austausch mit anderen Mikroben, in diesem Fall der Tiere, scheint das menschliche Immunsystem toleranter zu reagieren auf Eindringlinge und schießt nicht gleich mit Kanonen – in diesem Fall Typ-2 T-Zellen – mit voller Wucht auf Spatzen – in diesem Fall Bakterien oder Allergene. Andere Zellen, sogenannte Typ-3 regulatorische T-Zellen, die durch den Kontakt mit Mikroben überhaupt erst entstehen, halten sie zurück.
Fleißiger Untermieter, lange verkannter Darm – bleibt die Frage, wie dieses Organ bei Laune gehalten werden kann, damit es weiter für uns sorgt. Fast banal klingt da die Antwort des Forschers Ohnmacht: „Treiben Sie draußen Sport und lassen Sie ihre Kinder draußen spielen – so kommen sie mit Bakterien aus der Umwelt in Kontakt. Ernähren Sie sich gesund. Gemüse, Vollkornprodukte und Milch, die nicht zu Tode erhitzt wurde. Wenn man viel Vollwertkost isst, produzieren die Bakterien einen höheren Anteil kurzkettiger Fettsäuren, das kann ihr Immunsystem stärken.“