Was Leser am Restaurantkritiker zu kritisieren haben
Vormittags im Redaktionsstübchen, kurz vor der Mittagessenszeit, das Telefon schellt: „Sagen Sie mal“, dröhnt es nach kurzer Begrüßung aus dem Hörer, „warum geht es eigentlich in jeder zweiten Restaurantkritik von Ihnen um Flädlesuppe oder Kartoffelsalat?“. Er, der Leser, empfinde das als eintönig. Er wünsche sich doch ein differenzierteres Bild und rege an, mehr Fisch zu probieren, den er, der Leser, besonders gerne esse. „Oder auch mal Kässpätzle“, von denen er in der Kolumne noch nie eine Silbe zu lesen bekommen habe.
Nachdem die Erregung des Anrufers in der Leitung etwas abgeebbt ist, erklärt der Angerufene: „Wissen Sie, eine wirklich gute und ehrliche Küche erkennt man im Kleinen. Ist die Suppe aus dem Brühwürfel, dann weiß ich, woher auch für den Rest des Menüs der Wind weht. Kann einer keinen g’scheiten Kartoffelsalat fabrizieren, dann gilt ungefähr das Gleiche. Darum: Selbst wenn es Sie beim Lesen langweilt, werde ich auch in Zukunft an den Gradmessern einer guten Küche wie Fleischbrühe und Kartoffelsalat festhalten.“Die wahre Schönheit einer Frau zeige sich ja schließlich auch nicht am aufgebrezelten Tag ihrer Hochzeit, sondern an einem gewöhnlichen Morgen unter Alltagsbedingungen. „Wenn sie auch dann noch schön ist, stimmt das Gesamtpaket – wobei mit Schönheit weniger das Äußere gemeint ist. So ähnlich ist es mit der Küche: Ist die vermeintlich einfache Flädlesuppe gut, steigen die Erwartungen für den Hauptgang.“Oder anders gesagt: Ein Rinderfilet bekommt jeder zart und rosa hin. Aber für eine gute Brühe braucht es Fingerspitzengefühl, Zeit, Hingabe. Nach einer Weile versonnenen Schweigens sagt er, der Leser am anderen Ende der Leitung: „Mehr Desserts bei ,Aufgegabelt’ wären auch nicht schlecht. Aber ohne Schokolade. Davon bekomm’ ich Sodbrennen.“
Wenige Tage später, zur besten Kaffee-und-Kuchen-Zeit, bimmelt erneut das Telefon. Diesmal eine Leserin. Im Hintergrund lärmt ein Radiosender. Helene Fischer ist mal wieder atemlos unterwegs durch die Nacht. Die Anruferin regt an, nicht immer nur „so Sachen“über das Essen zu schreiben.
„Das Auge isst mit“, sagt die Dame nicht nur einmal. Wobei sie aber nicht das Essen meine, sondern das Ambiente und insbesondere die Tischdekoration. „Ohne brennende Kerzen möchte ich gar nichts essen“, erläutert die Frau, während Helene Fischer erneut was von Atemlosigkeit japst.
Der Angerufene zeigt Verständnis für die besondere Vorliebe der Anruferin und gelobt, in Zukunft stärker auf die Dekoration zu achten. „Sie haben sicher recht – aber über die Dekoration etwas zu schreiben, hat sich aus meiner Sicht bisher immer nur dann angeboten, wenn sie besonders schön oder besonders hässlich war.“
So hässlich könne eine Tischdeko ja gar nicht sein, dass es besser sei, sie ganz wegzulassen. „Doch, ich habe solche Dekorationen gesehen“, erwidert der Angerufene. Vor dem geistigen Auge ziehen Papierservietten vorbei, die zu einem Ziehharmonikamuster gefaltet sind. Die Erinnerung an ein italienisches Restaurant wird wach, wo die Wirtsleute ungekochte Spaghetti in Vasen stecken. Andernorts schlängeln sich EfeuRanken aus Plastik um den Platzteller.
„Sind Sie noch da?“, fragt es aus dem Hörer. Helene Fischer ist verstummt. Der Angerufene räuspert sich und fragt: „Kennen Sie eigentlich Spaghetti in der Vase?“