Mit Thiel am Tatort
Am Sonntag läuft wieder ein Münster-Krimi im Ersten – Lokaltermin mit Axel Prahl in der westfälischen Stadt
Entweder es regnet in Münster oder die Glocken läuten. Fällt beides zusammen, ist Sonntag.“Wie aus der Dienstpistole geschossen, kommt Axel Prahl die hiesige, schon sprichwörtliche Wetterregel über die Lippen. Der Mann hat so seine Erfahrungen: Gerade beim Fundort einer Frauenleiche am Ufer des innerstädtischen Flüsschens Aa eingetroffen, musste der knurrige Kommissar den Dreh zum Tatort „Hinkebein“abbrechen und inmitten immer neuer Wolkenbrüche einen halben Tag lang warten bis zur nächsten Klappe. Heute, beim „Lokaltermin“an vielen Schauplätzen des seit rund 15 Jahren laufenden und mittlerweile erfolgreichsten ARD-Sonntagskrimis, hat Prahl mehr Glück. „Los, erst mal auf den Prinzipalmarkt“, sagt er, schlendert deutlich bedächtiger als der stets etwas kurzbeinig-hektische Thiel und steckt sich erst mal eine an.
„Münster hat was von Lübeck“, nuschelt er zwischen Zigarette und Rauchwolke hervor – mit Blick auf die Treppengiebel der beigefarbenen Kaufmannshäuser. „Fühl‘ mich sehr wohl seit dem ersten ,Tatort’-Dreh, aber leben könnt‘ ich hier nicht – zu wenig Wasser“, sagt Prahl knapp und entschieden. Der Aa-See ist ihm „zu lütt“, Restaurants und Bars am wiederbelebten Binnenhafen beeindrucken den Ostholsteiner Küstenjung nicht so recht. Die Münsteraner dafür um so mehr: Prahl zeigt ein selbst gedrehtes Handy-Video: „Guck, Tausende bei unserem Dreh, trotzdem hörste ’ne Stecknadel fallen, so still sind die Leute auf dem Prinzipalmarkt!“
Münsters Kopfsteinpflaster-Boulevard, einst Schauplatz des Westfälischen Friedens, ist heute vor allem Schaufenster alteingesessener Kaufleute: Osthues, Zumnorde, OedingErdel prangt golden an den ArkadenFassaden. Meist ist der Prinzipalmarkt ideale Kulisse im ARD-Krimi, wenn Assistentin Nadeshda dem Kommissar im Auto den aktuellen Fahndungsstand verklickert. Aber auch schon mal Mordschauplatz: In der Folge „Tempelräuber“wird hier ein Mann überfahren, Boerne will ihm helfen und wird dann ebenfalls überrollt.
Heute gibt Prahl hier nicht seinen Thiel, sondern eher einen Bonsai-Bogart: Jackenkragen hoch, Hut tief in die Stirn gezogen. Noch ein wenig zerknautscht morgens um neun, möchte der untersetzte Mann mit Günther-Netzer-Scheitel und Kugelbäuchlein nicht gleich erkannt werden. Seine Tarnung hält allerdings keine fünf Minuten. „Moinsen, Herr Thiel!“, ruft ein Mann ihm zu. Aha, der vom St.-Pauli-Fan Thiel im Münster-„Tatort“eingeführte, norddeutsche Gruß – mitten im Herzen Westfalens, wo die Leute üblicherweise „Tach“sagen oder „Wohlsein“.
Ein paar Meter weiter, an der Lamberti-Kirche, strahlen Prahls himmelblaue Augen nach oben, zu drei Käfigen am Turm: „Da drin möcht‘ ich mal aufwachen nach durchzechter Nacht – natürlich nur im ,Tatort’“, schiebt er mit SchelmGrinsen hinterher. Das gefriert ihm in den Mundwinkeln, als er vom Zweck der Käfige hört: Fürstbischof Franz ließ darin die Leichen von drei radikalen Predigern verwesen. Sie hatten Vielweiberei und StraßenTaufe per Wassereimer propagiert, im zweijährigen Wiedertäufer-Regime. Ein Mittelalter-„Tatort“, Jahrgang 1536.
Vorm wuchtigen Dom mit dem leuchtend grünen Kupferdach bummelt der 57-jährige Schauspieler gerne über den Wochenmarkt zwischen erdig-westfälischen Gemüsebauern und henna-haarigen Bio-Wolle-Verkäuferinnen. Solche Alt-Aussteiger gehören zu Münster wie Thiels ewig kiffender „Vadder“zum „Tatort“. Kein Wunder bei etwa 50 000 Studenten. Doch prägend für die 300 000-Einwohner-Stadt sind sie nicht. Auf der Suche nach passenden Etiketten landet man vielmehr immer wieder in der bürgerlichen Mitte: „Besenrein“wirkt die Stadt (Tauben und Hunde gibt’s zwar, aber partout keinen Dreck). „Geordnete Verhältnisse“scheinen hier zu herrschen, sogar die Aa plätschert im betonierten Flussbett dahin. Eine ideale TV-Kulisse, in der ein „Tatort“-Mord jedes Mal für gehörig Aufruhr sorgt im – übrigens auch real existierenden – Milieu hornbebrillter Tweedjacken-Honoratioren mit Einstecktuch und Schmiss.
Das hat man nicht in der ARD, sondern im Zweiten Deutschen Fernsehen zuerst erkannt: Dort ermittelt Thiels ZDF-Kollege Wilsberg schon länger in seinem kleinen Buchladen – in der Realität das „Antiquariat Solder“ein paar Schritte unterhalb des Domplatzes. Vor der Tür erklärt Dagmar Brandt im Rahmen ihrer Führung „Krimistadt Münster“gerade, wie mit Privatdetektiv Wilsberg alles begann und dass Professor Bernd Brinkmann, der langjährige, charismatische Leiter der Rechtsmedizin, Pate stand für Thiels Partner, den „Tatort“-Pathologen Boerne, stets blasiert gespielt von Jan Josef Liefers.
Axel Prahl hat jetzt Durst und ein Ziel – das Pinkulus am Rosenplatz. Nein, nicht Pinkus Müller, die Altbier-Legende unter Münsters Studenten-Lokalen, sondern die winzige Eckkneipe gegenüber – wie gemalt für Kommissar Thiel: St.-PauliWimpel und Totenkopf-Schal hängen an der Wand als Tresen-Deko. Prahl fläzt sich hin zum munteren Pointen-Pingpong mit Vladi, dem Hamburger Wirt im Westfalen-Exil, und lacht nach sieben weiteren Zigaretten so rasselnd wie Thiels „Tatort“-Staatsanwältin Wilhelmine Klemm.
Weiter geht’s auf dem Rundgang zu „Tatort“-Schauplätzen wie dem ausladenden Barockschloss und dem mit Kneipen und Cafés wiederbelebten, aber immer noch leicht angerosteten Binnenhafen (ideal für Verfolgungsjagden). Dann fällt unser Blick auf überdimensionale Kirschen auf einer Säule, quietschbunte Kronleuchter im öffentlichen WC und durch ein rot-weiß gestreiftes Tor – drei von mehr als 60 Installationen, entstanden im Rahmen des alle zehn Jahre stattfindenden Festivals Skulpturen Projekte. Prahl zeigt „seine“Skulptur am Servatiiplatz – einen 3,50 Meter großen, grauen Mann, in einer Litfaßsäule steckend. Paul Wulf, ein von den Nazis verfolgter Münsteraner. „Nach der Errichtung sollte das Mahnmal eingemottet werden – aus Geldmangel“, erzählt Prahl, „da hab’ ich gespendet und auch Kollegen dazu animiert.“
Hier, an der die City umschließenden Grün-Promenade, zeigt die „lebenswerteste Stadt der Welt“(ausgezeichnet von der UN) unerwartet ihre Anarcho-Ader: Quietschende Bremsen, Hupen und Klingeln signalisieren „Hoppla-hierkomm-ich“. Es ist aber nicht etwa Boernes Bugatti, sondern es sind viele schwarmartig auftauchende Fahrräder. 500 000 soll es in Münster geben, gerade mal 3300 finden Platz in Deutschlands größtem Fahrradparkhaus, einem gläsernen Kuchenstück vorm Bahnhof. Alle übrigen Zweiräder bilden, zumeist wild geparkt, einen Hindernisparcours für Fußgänger. Allerdings nicht im „Tatort“. Kommissar Thiel hat auf dem Rennrad stets freie Bahn und doch einen Beinahe-Crash in Erinnerung: „Mit Kuchen im Mund sollte man eben keine Verfolgungsjagd proben“, sagt Prahl feixend.