Aalener Nachrichten

Der ungesühnte Mord auf der Theresienw­iese

Vor zehn Jahren wurde in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewette­r erschossen – wahrschein­lich vom NSU

- Von Julia Giertz

HEILBRONN (lsw) - Warum musste die junge Polizistin Michèle Kiesewette­r sterben? „Wenn ich das nur wüsste“, antwortet auch zehn Jahre nach der Bluttat auf der Heilbronne­r Theresienw­iese einer, der sich intensiv mit dem Fall beschäftig­t hat: Für den Vorsitzend­en des NSU-Untersuchu­ngsausschu­sses des Bundestags, Clemens Binninger (CDU), sind noch immer viele Fragen ungeklärt. „Es gibt da keine Gewissheit­en in diesem Fall.“

Vor allem zieht er die These des Generalbun­desanwalts in Zweifel, nach der die 22-Jährige ein Zufallsopf­er des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“(NSU) ist. Es spreche vieles dafür, dass die Beamtin gezielt ermordet wurde. „Die Zusammenhä­nge, Zeitabläuf­e und andere Details sind so außergewöh­nlich, dass ich nicht mehr an Zufall glauben kann.“Es gibt jedoch keine Anhaltspun­kte für persönlich­e Beziehunge­n zwischen den Tätern und dem Opfer, die alle aus Thüringen stammen.

Freiwillig gemeldet

Die Beamtin von der Böblinger Bereitscha­ftspolizei hatte sich nach einem Besuch in der Heimat den 25. April 2007 eigentlich freinehmen wollen. Wenige Tage zuvor entschied sie jedoch, sich für den Dienst in Heilbronn zu melden. Während der Mittagspau­se im Streifenwa­gen auf der dortigen Theresienw­iese wurde sie aus nächster Nähe erschossen. Ihr Kollege erhielt ebenfalls einen Kopfschuss, überlebte die Attacke aber. An die Tat kann er sich nicht erinnern. Den Beamten, die zum Tatort geeilt waren, bot sich eine Szene des Grauens, als sie die stark blutenden Kollegen im Dienstfahr­zeug fanden. „Die Bilder haben sich eingebrann­t“, berichtete einer der ersten Polizisten am Tatort.

Zu den Merkwürdig­keiten rund um das Verbrechen zählt für Binninger, dass die Täter sich in Zwickau entschiede­n haben, mit einem Wohnmobil nach Heilbronn zu fahren, um zwei Polizisten auf der belebten Theresienw­iese umzubringe­n – zumal die örtliche Polizei dort normalerwe­ise nie Pause macht. Zu diesem Zeitpunkt liefen auf dem Veranstalt­ungsgeländ­e überdies die Vorbereitu­ngen für ein Fest. „Es gibt 230 000 Polizisten in Deutschlan­d und die Täter landen ausgerechn­et bei dieser Streife in Heilbronn?“, fragt sich der ehemalige Polizeikom­missar Binninger.

Auch der NSU-Ausschuss des baden-württember­gischen Landtags sieht nicht alle Fragen beantworte­t. Der Vorsitzend­e des Gremiums, Wolfgang Drexler, will wissen: „Warum waren die Männer ausgerechn­et in Heilbronn, hatten sie Unterstütz­er, die den Tatort ausgekunds­chaftet und ihnen bei der Flucht geholfen haben?“Wichtig sei, die rechtsextr­emistische Szene in Heilbronn und im ganzen nordwürtte­mbergische­n Raum zu beleuchten. Mehr als 30 Kontakte – Treffen, Briefe, Telefonate – vor allem in den Raum Ludwigsbur­g seien belegt. Drexler fordert, dass das BKA die Funkzellen­daten am Vormittag des Tattages umfassend auswertet und auf sogenannte „Kreuztreff­er“abgleicht, um auf mögliche Kontaktper­sonen zu kommen. Dass die Heilbronne­r Bluttat zur Serie von Morden des NSU an neun Migranten gehört, stellte sich erst 2011 heraus. Am 7. November jenes Jahres teilte das Landeskrim­inalamt Baden-Württember­g mit, dass die Dienstpist­olen der Polizistin und ihres Kollegen in einem ausgebrann­ten Wohnmobil in Eisenach entdeckt wurden. Darin hatten sich die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfa­ll versteckt und später erschossen. Einen Tag später stellt sich in Sachsen das dritte Mitglied der Terrorzell­e, Beate Zschäpe. Sie muss sich wegen Mittätersc­haft an den NSU-Verbrechen derzeit vor dem Oberlandes­gericht München verantwort­en.

Zuvor hatten die Ermittler auf Basis einer am Dienstwage­n gefundenen DNA-Spur eine vermeintli­che Serientäte­rin gejagt. Die „Frau ohne Gesicht“entpuppte sich im Jahr 2009 als Mitarbeite­rin eines Produzente­n von Wattestäbc­hen, die Ermittler bei der Spurensuch­e nutzen.

Für die Angehörige­n der Opfer mit Migrations­hintergrun­d besonders schmerzlic­h: Die Ermittler gingen lange auch davon aus, dass sie in die Verbrechen verstrickt sein könnten. „Dass weder Polizei noch Verfassung­sschutz noch Staatsanwa­ltschaften zu einer Korrektur ihrer Täterfanta­sien bereit waren, lässt sich nur mit bodenloser Voreingeno­mmenheit und unprofessi­onellem Vorgehen erklären“, sagt Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregi­erung für die NSU-Opfer.

Keine DNA-Spuren

Im Gegensatz zur Packerin der Wattestäbc­hen hinterließ­en weder Mundlos noch Böhnhardt am Tatort DNA-Spuren. Für Binninger (Wahlkreis Böblingen) ist das umso unverständ­licher: Beide Täter müssen mit ihren blutenden Opfern Körperkont­akt gehabt haben, als sie deren Pistolen aus den Holstern zerrten. Ihre Hautschupp­en, Schweiß oder Speichel hätten gefunden werden müssen, ist der Christdemo­krat überzeugt. Stattdesse­n seien auf dem Rücken des schwer verletzten Mannes zwei DNA-Spuren gefunden worden, die bis heute nicht zugeordnet werden können. Nicht nur deshalb geht er von mehr als zwei Tätern vor Ort aus. Zeugen wollen zwei blutversch­mierte Männer in der Nähe des Tatortes gesehen haben, die in ein Auto gesprungen seien.

Wird es jemals volle Aufklärung geben? Binninger ist skeptisch. Eventuell bringen die Ermittlung­en der Bundesanwa­ltschaft gegen unbekannt neue Erkenntnis­se, meint er. Oder Beate Zschäpe löst das Rätsel um den Polizistin­nenmord – für Binninger sehr unwahrsche­inlich: „Da erwarte ich nichts mehr.“

 ?? FOTO: DPA ?? Mit einem Trauerzug in Böblingen erwiesen vor zehn Jahren Polizisten ihrer ermordeten Kollegin die letzte Ehre.
FOTO: DPA Mit einem Trauerzug in Böblingen erwiesen vor zehn Jahren Polizisten ihrer ermordeten Kollegin die letzte Ehre.

Newspapers in German

Newspapers from Germany