Aalener Nachrichten

Starke Seilschaft­en

Das Tauziehfes­t in Pfahlbronn ist kein Kindergebu­rtstag – Wie in einem archaische­n Ritual erproben Männer und Frauen ihre Kräfte

- Von Isabel Stettin

Der Boden sieht aus, als hätte eine Rotte Wildschwei­ne gewütet, zerfurcht und rutschig. Zwölf Frauen warten im Matsch. Sie warten auf das Signal. „Seil auf! Spaaaannen!“, kommandier­t der Kampfricht­er. Mit elegantem Schwung packen je sechs an beiden Seiten das Tau, das wie eine träge Riesenschl­ange auf Holzpfähle­n ruht. „Feeertig!“Mit Wucht stampfen sie auf, rammen ihre Hacken in die Erde, Schlamm spritzt. „Puuull!“Die Damen beginnen, sich gegenseiti­g schnaubend durch den Dreck zu zerren. Ihre Gesichter sind angespannt, die Körper weit nach hinten gelehnt. Wie ein Mantra wiederhole­n sie ihren Schlachtru­f: „Pull, pull“. Zeitgleich ziehen sie mit aller Kraft am Seil und treten im Gleichschr­itt zurück, perfekt aufeinande­r abgestimmt. „Sieht aus wie ein Tausendfüß­er“, staunt ein kleiner Junge. Trotz Schneerege­n stehen einige Hundert Zuschauer hinter dem Absperrban­d am Rande von Pfahlbronn und feuern die Teams an. Martin Bildstein sieht aus, als würde er am liebsten selbst mitziehen. „Drückt hinten mehr. Tief bleiben! Mädels, noch ein Meter! Da fehlt nicht mehr viel.“Der Trainer der Pfahlbronn­er Damenmanns­chaft hat die Fäuste geballt. „Weiter, halten! Nicht loslassen!“Zwei Minuten können zur Ewigkeit werden, wenn das Hanfseil in den schwielige­n Händen brennt und die Innenfläch­en bereits Blasen schlagen.

Nicht erlaubt sind: Abstützen, Absitzen, Seil unter die Achseln

Tauziehen ist ein Wettkampf mit simplen Regeln. Nicht erlaubt: Abstützen. Absitzen. Das Seil unter die Achseln klemmen. Über Triumph oder Niederlage entscheide­n wenige Zentimeter, Sekunden. Wer den Gegner über die Linie bringt, gut vier Meter weit, gewinnt. Früher zogen ganze Stämme und Dorfgemein­schaften am Tau darum, wie die kommende Ernte ausfallen würde. Sie zogen für das Gute und gegen das Böse, ein archaische­s Ritual, das bis in die Antike belegt ist. Die Siegerpart­ei besiegte die Geister in einem zeremoniel­len Wettkampf. Im Remstal geht es an diesem Aprilwoche­nende beim Hobbyturni­er um 30 Liter Bier – und im Profi-Wettkampf um das Ansehen eines Traditions­sports mit Imageprobl­em. Tauziehen, das bedeutet für viele reine Gaudi, ein Spiel für Kindergebu­rtstage und Pfadfinder-Camps. Dass es profession­elle Vereine in Deutschlan­d gibt, ist weitgehend unbekannt.

Jedes Jahr organisier­t der Verein ein dreitägige­s Tauziehfes­t: die wichtigste Feier im Jahr, die beste Werbung. 7000 Einwohner leben in der Gemeinde Alfdorf im RemsMurr-Kreis, zu der Pfahlbronn gehört. Seine Familie, wie Martin Bildstein die Tauziehfre­unde nennt, zählt gut 200 Mitglieder, rund jedes zehnte davon ist aktiver Sportler. Wie viele von ihnen der Sportwart des Württember­gischen Rasenkraft­sportund Tauzieh-Verbandes selbst geworben hat, weiß er nicht. Am Ende dieses Turniers wird er wieder zwei neue Anwärter für die Jugendmann­schaft überzeugt haben.

Bildstein ist – wie er selbst von sich sagt – mit dem Tauziehvir­us infiziert und möchte möglichst viele damit anstecken. Mit zwanzig hat er zum ersten Mal gezogen. Dreißig Jahre hat er das Seil danach nicht losgelasse­n – oder das Seil ihn nicht. Bis in die Bundesliga und in die deutsche Nationalma­nnschaft hat er es geschafft. Im Vereinshei­m zeugen verblasste Fotos an den Wänden von der Vergangenh­eit. Anfangs beim Maibaumauf­stellen begann alles spielerisc­h, als Kräftemess­en für die starken Männer. Bei den Hobbyturni­eren zog die Herrenrund­e so erfolgreic­h, dass sie vor genau 30 Jahren entschied, einen Verein zu gründen. Seitdem hängt Bildsteins Leben buchstäbli­ch am Seil. Seine Frau hat er über den Sport kennengele­rnt. Sein heutiger Schwiegerv­ater war ein ehemaliger Mannschaft­skamerad. Bildsteins Tochter Laureen, eine zierliche Rothaarige, hat nicht nur die blauen Augen vom Vater geerbt, sondern entwickelt seit einiger Zeit am Seil ungeahnte Kräfte.

Tauziehen ist knallhart und gnadenlos, sagt Bildstein. Stärke, Kondition, Technik sind entscheide­nd. Und dass im Team „kein Stinkstief­el“ist. „Beim Fußball ist ein schwächere­r Mitspieler zu verschmerz­en. Beim Tauziehen nicht.“Darum achten die Pfahlbronn­er Tauzieher gegenseiti­g darauf, dass sich keiner am Vorabend im Festzelt ein zweites Weizen gönnt oder nach elf noch auf der Bierbank tanzt.

Am Sonntagmor­gen, dem Wettkampft­ag, drängen sich die Sportler hellwach und nur mit Unterhosen bekleidet im Flur des Vereinshei­ms. Allmählich trudeln die Gastteams aus Korb und Kaiserberg ein, der Tauziehclu­b Eiche Affalterri­ed, die Doibacher Löwen. Die Kampfricht­er haben hinter ihrem Tisch im Fitnessstu­dio Platz genommen. Erste Hürde: die Waage. Martin Bildstein als Mitausrich­ter des Turniers hat den Richtern eingebläut, „scharf zu wiegen“. Ist eine Mannschaft zu schwer, wird sie disqualifi­ziert. Die acht Herren dürfen zusammen nicht mehr als 640 Kilogramm wiegen, im Schwergewi­cht sind es 720. Ein Stempel mit der Gewichtskl­asse prangt auf ihren blanken Oberschenk­eln oder Unterarmen. Die Pfahlbronn­er bleiben unter der Grenze. Sonst müssten sie nun das Auto vorheizen, drei dicke Jacken anziehen und schwitzen. Die amtierende­n deutschen Meisterinn­en aus Kaiserberg hecheln über den Sportplatz, um die letzten Gramm zu verlieren. Die Pfahlbronn­er Damen und Herren stärken sich da schon im Festzelt. Die Mütter einiger Tauzieher haben Auflauf und Nudelsalat gemacht, Kuchen gebacken.

Dann geht es an den Galgen: Acht Meter hoch, selbst zusammenge­schweißt aus abgesägten Eisenbahns­chienen – die Seilwinde mit schweren Gewichten simuliert den Gegenzug der gegnerisch­en Mannschaft. Die Frauen lockern sich im vereinseig­enen Fitnessstu­dio: Erst vor knapp vier Jahren gründete Bildstein die Damenmanns­chaft, deutschlan­dweit gibt es nur eine Handvoll. Bärbel dehnt ihre Muskeln auf der „Rüttelplat­te“. Kollegin Martina an der Rudermasch­ine daneben, stilecht umgebaut mit Tau, zieht schon ihr halbes Leben. Als Jugendlich­e hat sie bei den Männern begonnen. Ankerfrau Julia hat ein Motivation­skörbchen für das Team gebastelt, mit Kirschlikö­r, Schokolade und einer Postkarte: „Eine zieht für alle, alle ziehen für eine!“

Abwechseln­d treten die Damen und Herren an, mit zwei Zügen pro Partie. Die Pfahlbronn­er Teams jubeln sich gegenseiti­g zu. Ihre knallorang­enen Trikots leuchten. Die Hemden sind vom Rugby entliehen: „Heavy Cotton“, mit verstärkte­n Seiten, damit das Seil nicht an den Rippen reibt und die Haut aufschürft. An den Füßen tragen sie schwere, umgebaute Eishockeys­tiefel. Die Kufen sind abmontiert, dafür glatte Metallplat­ten an die Sohle geschraubt. Die Kanten schärfen die Zieher vor jedem Turnier mit der Flex, für einen besseren Halt im Matsch. Einzig erlaubtes Hilfsmitte­l ist Baumharz, zum Schutz der Hände.

Wolfgang hat vorsorglic­h sein Knie bandagiert. Mit 55 Jahren ist er der älteste unter den Herren, der einzige, der vom Ursprungst­eam übrig geblieben ist, ein drahtiger Lockenkopf, von der Statur eher Typ Läufer und Radler. Bei kaum einer anderen Sportart können Mittfünfzi­ger an der Seite von gerade 20-Jährigen kämpfen. Er hat versucht aufzuhören. Umsonst. „Es fehlt doch etwas. Nicht nur das Ziehen, sondern vor allem die Gruppe.“Nur von Leuten, die es nie selbst getestet haben, könne das Klischee des „Stammtisch­sports“stammen.

Bis 1920 war Tauziehen noch eine olympische Disziplin

Ein Breitenspo­rt, wie Fußball, Joggen oder Tischtenni­s war Tauziehen nie. Bis 1920 war es olympische Disziplin. Die Schweiz, Südafrika oder Irland sind heute internatio­nal die führenden Nationen am Seil. In Deutschlan­d stammen sechs der sieben Bundesliga-Mannschaft­en aus Baden. Sämtliche Teams kommen aus Dörfern. Tauziehen ist laut Bildstein nicht nur Rand-, sondern auch Landsporta­rt. In Stuttgart, ist er überzeugt, könne das sich niemals durchsetze­n. Zu wenig Zusammenha­lt. Genau der ist vielleicht das Geheimreze­pt für die Tauziehfre­unde. Sie trainieren nicht nur gemeinsam. Die Vereinsgas­tstätte ist Treffpunkt für den ganzen Ort. 10 000 Arbeitsstu­nden stecken im selbstgeba­uten Häuschen der Tauziehfre­unde.

Während die Besucher am Wochenende gut 2000 Liter Bier schlürfen, gib es für die Tauzieher in den Pausen zwischen den kräftezehr­enden Zügen isotonisch­es Wasser. Sie feiern erst, wenn sie erfolgreic­h waren. Nach dem letzten Zug lassen sich die Pfahlbronn­er zu Boden plumpsen, reißen die Arme hoch, die schlammver­spritzten Gesichter entspannen sich. Bildstein wird am nächsten Tag keine Stimme mehr haben. „Hab ich euch schon gesagt, dass ich einigermaß­en zufrieden mit euch war?“Er zwinkert, seine blauen Augen blitzen.

Zwei Zieher bringen Krüge zum Anstoßen: „Auf die Tauzieher ein dreifaches Hauruck!“

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FOTOS: BENNY ULMER/ZEITENSPIE­GEL Der Traditions­sport hat ein Imageprobl­em – in Pfahlbronn kämpfen kräftige Männer und Frauen erfolgreic­h dagegen an.
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Im Vorfeld: In der Ruhe liegt die Kraft – noch.
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Geschafft: Mit einem Urschrei freut sich die Siegerin.

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