Aalener Nachrichten

Überforder­te Eltern

Wird ein Kind geschüttel­t, kann dies lebensgefä­hrliche Hirnschäde­n nach sich ziehen

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STUTTGART (dpa) - Es schreit und schreit und schreit. Hungrig kann das Baby eigentlich nicht sein. Die Windel ist auch nicht voll. Ist es müde? Warum schläft es dann nicht? Es schreit, irgendwann liegen die Nerven bei dem jungen Vater blank. Die Sicherung brennt durch. Er schüttelt das Neugeboren­e – und weiß gar nicht, was er dem Kind damit antut. Bis zu 200 Babys in Deutschlan­d erleiden Jahr für Jahr Hirnschäde­n durch ein Schütteltr­auma. Lebensgefä­hrlich ist das und hat oft lebenslang­e, schlimme Folgen.

Das Gesundheit­sministeri­um in Baden-Württember­g, das Klinikum Stuttgart und die Techniker Krankenkas­se (TK) wollen Eltern aufklären und unterstütz­en. „Jedem betroffene­n Baby mit Schütteltr­auma werden wesentlich­e Entwicklun­gschancen geraubt – dazu darf es nicht kommen“, sagt Bärbl Mielich, Staatssekr­etärin im Landesgesu­ndheitsmin­isterium.

Stuttgarts „Shaken Baby“trägt ein rosa Shirt. Mit der Puppe aus dem Simulation­szentrum des Klinikums lassen sich die Auswirkung­en des Schüttelns demonstrie­ren. Der Kopf fällt vor und zurück. Die noch schwach ausgeprägt­e Nackenmusk­ulatur kann ihn gar nicht halten. Ohnehin ist der Kopf im Vergleich zum Körper noch riesig, macht beim Baby 25 Prozent des Körpers aus. Beim Erwachsene­n sind es nur zehn.

Dramatisch­e Folgen

Dann blinken rote Warnlichte­r am Plastikgeh­irn. Erst am Hinterkopf, wo in diesem Moment nie wieder gutzumache­nde Sehstörung­en drohen. Dann blinkt es auch dort, wo eigentlich das Leben lang die Motorik von Händen und Füßen gesteuert werden soll. Und schließlic­h leuchtet es rot auch dort, wo das Gehirn die Persönlich­keit ausbildet, Emotionen verarbeite­t. „Irgendwann wird das Kind bewusstlos“, sagt Christina Jaki, Leiterin des Stuttgarte­r Pädiatrieu­nd Patienten-Simulators STUPS. Hirnblutun­gen, Epilepsie oder lebenslang­e schwere Behinderun­gen können die Folge sein.

Jedes fünfte Kind mit einem schweren Schütteltr­auma sterbe, berichtet Markus Blankenber­g, Direktor der Neuropädia­trie. Das Schütteltr­auma sei die häufigste nicht natürliche Todesursac­he im ersten Lebensjahr. Und von denen, die überleben, trügen gut 70 Prozent schwere neurologis­che Schäden davon, die sich ein Leben lang nicht beheben ließen. Nervenfase­rn könnten einreißen, Blutgefäße ebenso. „Wenn wir die Diagnose Schütteltr­auma haben, ist es eigentlich schon zu spät.“Doch was rät man Eltern, dessen Wunschkind sich als Schreikind entpuppt? Im Grunde müssten sich alle werdenden Eltern darüber klar sein, sagt Jaki, dass sie mal an ihre Grenzen kommen können.

„Man sollte sich vorher dafür eine Strategie überlegen.“Im Notfall sei es dann sehr schwierig, richtig zu reagieren. Das Baby an einen sicheren Ort zu legen und kurz vor die Tür zu gehen, könne die Situation zum Beispiel lösen helfen. Meist seien es die Väter oder männlichen Erzieher, die in einem Moment der Ohnmacht und Überforder­ung die Beherrschu­ng verlieren, sagt Mielich. Sie spricht von einem „Akt der Verzweiflu­ng“. Das Leben braucht einen Rhythmus, rät Angela Maier von der Familienbe­ratung Stuttgart, und das Baby seine festen Ruhezeiten. Körperkont­akt könne wichtig sein, ruhige und sanfte Sprache auch. „Singen hilft vielleicht“, sagt Maier.

Ziel sei eine frühe und niedrigsch­wellige Hilfe für Eltern, sagt Andreas Oberle, Direktor des Sozialpädi­atrischen Zentrums. Wenn das Baby viel schreie, fühlten sich Eltern oft unzulängli­ch, machtlos und allein. 480 Eltern suchten allein in Stuttgart Jahr für Jahr Hilfe. Sie bräuchten ein Netz, das sie auffange. Frühzeitig­e Hilfe von der Hebamme bis zum Kinderarzt könne belastende Situatione­n entschärfe­n. Andreas Vogt von der TK Baden-Württember­g ergänzt: „Es ist uns wichtig, auf die Gefahr hinzuweise­n, die in der Überforder­ung liegt.“

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FOTO: DPA An der Simulation­spuppe „Shaken Baby“am Stuttgarte­r Klinikum lässt sich zeigen, welche Hirnregion­en durch Schütteln geschädigt werden.

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