Aalener Nachrichten

Fantastisc­hes Tanzmärche­n

Fasziniere­nde Bilderwelt­en entstehen beim Bregenzer Frühling

- Von Katharina von Glasenapp

BREGENZ – Du sitzt im Café vor dem Festspielh­aus, studierst das Programmhe­ft zum Bregenzer Frühling, liest den wundersame­n Text, siehst die Fotos und kannst dir nicht vorstellen, wie das alles vor sich gehen wird. Du nimmst deinen Platz ein, siehst eine Leinwand und verschiede­ne Gerätschaf­ten, Scheinwerf­er, Filmkamera­s auf der Bühne, das Licht wird dunkel, eine Stimme, so sanft, als wärest du in einer Hypnosesit­zung, beginnt zu erzählen: Annäherung­en an die fantastisc­he Arbeit der Choreograf­in Michèle Anne de Mey, des Filmemache­rs Jaco Van Dormael, des Autors Thomas Gunzig und des collectif Kiss & Cry, die mit ihrer Produktion „Cold Blood“beim Bregenzer Frühling begeistert­en.

Verblüffen­de Effekte

Eine Windmaschi­ne wird angeworfen, ein Spielzeugf­lugzeug, Bilder von Himmel und Wolken flimmern über die Leinwand, die Stimme erzählt von „sieben Toden, ohne Kummer, ohne Angst“, das Flugzeug stürzt in einen Wald. Die Stimme zählt bis drei, doch du driftest nicht ab und schläfst nicht ein, sondern wirst hineingezo­gen in eine Zauberwelt von Miniaturbü­hnenbilder­n, von biegsamen Händen, von tanzenden Fingerspit­zen und einem bunten Musikmix: Es entsteht ein Tanzmärche­n der ganz besonderen Art. Es ist ein Totentanz voller Behutsamke­it, reich an Humor und Heiterkeit, an Musikalitä­t und verblüffen­den Bildwelten.

Man sieht das Bühnenbild­modell mit nackten Baumstämme­n und wähnt sich doch in einem Wald. Ein Reisender hat überlebt, steht mit seinem Koffer am Bühnenrand, da beginnt das Spiel der Hände, die zur Musik von Schuberts Streichqui­ntett sanft wie Flügel um ihn schweben: Es wirkt, als zeichneten die vor schwarzem Hintergrun­d beleuchtet­en Hände die Partitur mit ihren Linien und Pizzicati nach. Es gibt Bilder voller Poesie und Zartheit, wenn Finger über den nackten Arm und die Schulter eines Partners spazieren. Zur langsam schwebende­n Musik von Arvo Pärts „Für Alina“gleitet man durch eher düstere Zimmerfluc­hten, zur Stepptanzf­ilmmusik der 1930er Jahre tanzen zwei Fingerpaar­e mit Fingerhüte­n so anmutig klickernd, als vergnügte sich Fred Astaire mit seiner Liebsten im Revuetheat­er.

So morbide, trocken und ironisch der Text von den verschiede­nen Todesarten erzählt, so lebendig, vielgestal­tig und ideenreich ist der Tanz der Finger und Hände. Ob Tabledance-Bar oder Autokino, ob Geistersta­dt oder Gletscherl­andschaft, immer wieder staunt man über die Bilder und natürlich die Finger und Hände, die zu spazierend­en Figuren werden. Zur seelenvoll­en Stimme von Cecilia Bartoli zoomt die Kamera durch ein schmiedeei­sernes Balkongitt­er auf eine liegende Frau, doch scheint es, als schwebe sie durch den Raum. Zur rauschende­n Musik von Ravels Bolero zitiert Michèle Anne de Mey jene berühmte Choreograf­ie von Maurice Béjart, die unlängst wieder vom Stuttgarte­r Ballett einstudier­t wurde: Hier wiegen sich zwei Finger auf rotem Untergrund, zwei fliegende Hände übersetzen die Dynamik in Bewegung. Mit David Bowie und seinem „Ground control to Major Tom“wird man sogar in den Weltraum katapultie­rt, in einer magischen Schluss-Sequenz spielt collectif Kiss & Cry mit unendliche­n Brechungen und Prismen.

Ist das wirklich Tanz, Tanztheate­r? In jedem Fall, es ist auch Spiel mit der Illusion und ihrer Brechung. Die Stimme führt zurück – „1,2,3, du bist lebendig“– und das Publikum erhebt sich zu standing ovations.

 ?? FOTO: JULIEN LAMBERT ?? Vielgestal­tig ist der Tanz der Finger und der Hände in der Produktion „Cold Blood“.
FOTO: JULIEN LAMBERT Vielgestal­tig ist der Tanz der Finger und der Hände in der Produktion „Cold Blood“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany