Fantastisches Tanzmärchen
Faszinierende Bilderwelten entstehen beim Bregenzer Frühling
BREGENZ – Du sitzt im Café vor dem Festspielhaus, studierst das Programmheft zum Bregenzer Frühling, liest den wundersamen Text, siehst die Fotos und kannst dir nicht vorstellen, wie das alles vor sich gehen wird. Du nimmst deinen Platz ein, siehst eine Leinwand und verschiedene Gerätschaften, Scheinwerfer, Filmkameras auf der Bühne, das Licht wird dunkel, eine Stimme, so sanft, als wärest du in einer Hypnosesitzung, beginnt zu erzählen: Annäherungen an die fantastische Arbeit der Choreografin Michèle Anne de Mey, des Filmemachers Jaco Van Dormael, des Autors Thomas Gunzig und des collectif Kiss & Cry, die mit ihrer Produktion „Cold Blood“beim Bregenzer Frühling begeisterten.
Verblüffende Effekte
Eine Windmaschine wird angeworfen, ein Spielzeugflugzeug, Bilder von Himmel und Wolken flimmern über die Leinwand, die Stimme erzählt von „sieben Toden, ohne Kummer, ohne Angst“, das Flugzeug stürzt in einen Wald. Die Stimme zählt bis drei, doch du driftest nicht ab und schläfst nicht ein, sondern wirst hineingezogen in eine Zauberwelt von Miniaturbühnenbildern, von biegsamen Händen, von tanzenden Fingerspitzen und einem bunten Musikmix: Es entsteht ein Tanzmärchen der ganz besonderen Art. Es ist ein Totentanz voller Behutsamkeit, reich an Humor und Heiterkeit, an Musikalität und verblüffenden Bildwelten.
Man sieht das Bühnenbildmodell mit nackten Baumstämmen und wähnt sich doch in einem Wald. Ein Reisender hat überlebt, steht mit seinem Koffer am Bühnenrand, da beginnt das Spiel der Hände, die zur Musik von Schuberts Streichquintett sanft wie Flügel um ihn schweben: Es wirkt, als zeichneten die vor schwarzem Hintergrund beleuchteten Hände die Partitur mit ihren Linien und Pizzicati nach. Es gibt Bilder voller Poesie und Zartheit, wenn Finger über den nackten Arm und die Schulter eines Partners spazieren. Zur langsam schwebenden Musik von Arvo Pärts „Für Alina“gleitet man durch eher düstere Zimmerfluchten, zur Stepptanzfilmmusik der 1930er Jahre tanzen zwei Fingerpaare mit Fingerhüten so anmutig klickernd, als vergnügte sich Fred Astaire mit seiner Liebsten im Revuetheater.
So morbide, trocken und ironisch der Text von den verschiedenen Todesarten erzählt, so lebendig, vielgestaltig und ideenreich ist der Tanz der Finger und Hände. Ob Tabledance-Bar oder Autokino, ob Geisterstadt oder Gletscherlandschaft, immer wieder staunt man über die Bilder und natürlich die Finger und Hände, die zu spazierenden Figuren werden. Zur seelenvollen Stimme von Cecilia Bartoli zoomt die Kamera durch ein schmiedeeisernes Balkongitter auf eine liegende Frau, doch scheint es, als schwebe sie durch den Raum. Zur rauschenden Musik von Ravels Bolero zitiert Michèle Anne de Mey jene berühmte Choreografie von Maurice Béjart, die unlängst wieder vom Stuttgarter Ballett einstudiert wurde: Hier wiegen sich zwei Finger auf rotem Untergrund, zwei fliegende Hände übersetzen die Dynamik in Bewegung. Mit David Bowie und seinem „Ground control to Major Tom“wird man sogar in den Weltraum katapultiert, in einer magischen Schluss-Sequenz spielt collectif Kiss & Cry mit unendlichen Brechungen und Prismen.
Ist das wirklich Tanz, Tanztheater? In jedem Fall, es ist auch Spiel mit der Illusion und ihrer Brechung. Die Stimme führt zurück – „1,2,3, du bist lebendig“– und das Publikum erhebt sich zu standing ovations.