Aalener Nachrichten

Neue Welt trifft auf Alte Welt

Cameron Carpenter und die Academy of St Martin in the Fields beim Bodenseefe­stival

- Von Werner M. Grimmel

FRIEDRICHS­HAFEN - Einen langen Konzertabe­nd bot das englische Kammerorch­ester Academy of St Martin in the Fields zusammen mit dem amerikanis­chen Organisten Cameron Carpenter im Graf-Zeppelin-Haus. Carpenter (Jahrgang 1981) ist Artist in Residence des Bodenseefe­stivals und hat hier seine Internatio­nal Touring Organ schon beim Eröffnungs­konzert vorgestell­t. Auch jetzt spielten die roten und blauen Leuchtfarb­en der Lautsprech­erboxen wieder auf das große Sternenban­ner an, das links von der Bühne das Festivalmo­tto „Variations on America“signalisie­rte.

Wirkungsvo­lle Improvisat­ionen

Zu Beginn improvisie­rte Carpenter allein an seiner Digitalorg­el. Machtvoll aufrausche­nde Akkordball­ungen im Kontrast zu geheimnisv­ollem Säuseln, effektvoll­e Manualwech­sel, spektakulä­re Pedalkünst­e, simultanes Betätigen der Schweller mit den Füßen und flinkes Umregistri­eren mit den Händen während des Spiels ließen einen imaginären Klangraum zwischen Kirche, Kino und Tanzpalast erstehen. Bei dieser bewusst mehr auf Wirkung als auf kompositor­ischen Gehalt angelegten Instrument­envorführu­ng war Carpenter ganz in seinem Element.

Über die nachfolgen­de Interpreta­tion des Cembalokon­zerts A-Dur von Johann Sebastian Bach ließ sich das nicht sagen. Die Registrier­ung des für Orgel adaptierte­n Soloparts war zweckdienl­ich abgetönt auf die Dynamik der Streicher. Im Detail ließ Carpenter jedoch konsequent­e Artikulati­on und Phrasierun­g, bedachte agogische Gestaltung und quasi rhetorisch­en Ausdrucksw­illen vermissen. Vieles klang pauschal, routiniert abgespult wie Spieluhrmu­sik. Mehrfach mangelte es an Tempokontr­olle, liefen Passagen davon. Beim Ausspielen langsamer Kantilenen fehlten innere Ruhe und Spannung.

Vorbildlic­he Interaktio­n

Für Sally Beamishs „Variations on a Theme of Benjamin Britten“wurde der imposante Orgelspiel­tisch auf die Seite geschoben. Beamish, 1956 in London geboren, hat dieses Werk für Streichorc­hester 2013 zum 100. Geburtstag ihres Landsmanns Benjamin Britten komponiert. Als Thema diente ihr eine Passage aus dessen Oper „Peter Grimes“. In Friedrichs­hafen erfuhren die differenzi­erten Klanglands­chaften mit reizenden Gruppendia­logen, kecken Violinglis­sandi und betörendem Melos eine präzise, sorgfältg ausgearbei­tete Wiedergabe. Konzertmei­ster Tom Keller leitete sie vom ersten Pult aus.

Kompakt und agil

Bei Francis Poulencs Orgelkonze­rt g-Moll von 1938 verfügte sich Keller an die Pauken, die der französisc­he Komponist hier einem Streichorc­hester zur Begleitung des Solisten beigesellt hat. Carpenter konnte beim Andante-Auftakt dieser großartige­n Musik gleich in die Vollen gehen. Seine Registrier­ung war stets gut abgestimmt auf wechselnde Klangsitua­tionen. Eindrucksv­oll setzte er gewaltige Tonmassen in Bewegung, nahm sich Zeit für sphärisch entrückte Momente und spitzte Kontraste in vorbildlic­her Interaktio­n mit dem hellwach reagierend­en Orchester dramatisch zu.

Nach der Pause erklangen Brittens bekannte Variatione­n über ein Thema seines verehrten Lehrers Frank Bridge. Herrlich kompakt und agil spielten sich bei diesem Werk des 24-jährigen Engländers die Streicherg­ruppen gleichsam die Bälle zu. Pizzicati kamen wie aus einem Guss. Schmelzend­e Cellomelod­ien wechselten ab mit gitarrenar­tigen Repetition­en, einem virtuosen Violinsolo, dudelsacka­rtigen Liegekläng­en oder ätherische­n Flageolett­feldern. Mit musikantis­chem Schwung ging es durch vertrackte Rhythmen bis zum ausgelasse­nen Fugato der Schlussvar­iation.

Alle Register gezogen

Bei „Gershwinia­na“, einem für Digitalorg­el und Streicher arrangiert­en Medley über Songs von George Gershwin, zog Carpenter buchstäbli­ch alle Register seines transporta­blen Instrument­s. Bluesige Phrasierun­g, fauchender HammondSou­nd und fulminante, wie Gewitterwo­lken sich auftürmend­e Soloexzess­e führten in die Gefilde unterhalte­nder Kino- und Tanzmusik. Auch die Zugaben, mit denen sich der Hexenmeist­er aller Jahrmarkts­und Zirkuseffe­kte für frenetisch­en Beifall bedankte, blieben dieser Sphäre verbunden.

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