Aalener Nachrichten

Ein Jahrhunder­tprozess auf dem Weg ins Nirgendwo

Das NSU-Verfahren in München geht ins fünfte Jahr – Ein Ende ist nicht absehbar

- Von Uwe Jauß

MÜNCHEN - Ein Justizbunk­er inmitten des Münchner Oberlandes­gerichts, praktisch kein Tageslicht, völlige Tristesse, die von der bleichen, strohgelbe­n Wandfarbe noch verstärkt wird. Schon die Aussicht, hier öfters herkommen zu müssen, dürfte depressiv stimmen. Von Rechts wegen trifft sich hier aber seit vier Jahren immer der mehr oder weniger gleiche Kreis: all jene, die mit dem Jahrhunder­tverfahren über die Verbrechen des kurz NSU genannten Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s zu tun haben.

Das Gesicht des Prozesses ist Beate Zschäpe, von Boulevardm­edien gerne als „Terrorbrau­t“bezeichnet. Beim Blick von der Zuschauert­ribüne hinunter zum Verhandlun­gsbereich sieht man aber nur eine kleine, 42-jährige Frau mit einem etwas verdrückt wirkenden Aussehen. Sie greift zu einem Schokorieg­el. Eigentlich eine wertlose Beobachtun­g, jedoch in ihrer Nichtigkei­t vielsagend. Dass der Griff der in Brauntönen gekleidete­n Angeklagte­n zur braunen Süßigkeit überhaupt ins Auge fällt, zeigt, wo das Verfahren nach 367 Verhandlun­gstagen gelandet ist: im Nebensächl­ichen.

Die Morde scheinen weit weg

Bei der jüngsten Sitzung hatten die wenigen verblieben­en Berichters­tatter der sonst so stolzen Münchner Medien auf der Zuschauert­ribüne dann auch vor allem ein Thema: Wer von ihnen mit wem bereits eine Affäre gehabt hat und wer nicht: „Meine Ex mit dem deinem Ex“– gefolgt von ähnlichen Feststellu­ngen während der Verhandlun­gspausen. Zschäpe, die zehn NSU-Morde, die Banküberfä­lle, all die dahinterst­eckenden Nazi-Verbindung­en scheinen weit weg zu sein – auch wenn es im Gerichtssa­al genau darum geht. Aber seit Monaten gibt es keine tieferen Erkenntnis­se mehr.

Über 500 Zeugen wurden gehört. Dazu noch zig Sachverstä­ndige. Mehr als 50 Millionen Euro hat der Mammutproz­ess bisher gekostet. Wie ein Dauerberic­hterstatte­r ermüdet sagt, seien jedoch alle Anklagepun­kte der Bundesanwa­ltschaft längst von „allen Seiten beleuchtet“worden. Zschäpe werden vor allem die Mittätersc­haft bei den NSU-Morden, besonders schwere Brandstift­ung sowie Gründung einer Terrororga­nisation vorgeworfe­n. Ihre beiden Kumpane, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, hatten zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Als die beiden vier Jahre später nach einem Banküberfa­ll gestellt wurden, brachten sie sich selber um. Zschäpe zündete die gemeinsame Wohnung an. Kurz darauf stellte sie sich der Polizei.

Fünf der Taten hatte das Trio in Bayern begangen. Deswegen kam der Fall ans Münchner Oberlandes­gericht – und zwar an den Staatsschu­tzsenat. Für den Vorsitzend­en Richter Manfred Götzl und seine vier Kollegen auf der Richterban­k geht es darum, die wahre Rolle Zschäpes im Rahmen des Trios herauszufi­nden: eiskalte Mittäterin – oder vielleicht doch nur ein kleines Licht im Terrorumfe­ld. Der energisch wirkende Jurist hat bereits andere schwierige Verfahren gemanagt, etwa den Prozess im Fall des ermordeten exzentrisc­hen Münchner Modezaren Rudolph Moshammer. Die ewigen juristisch­en Scharmütze­l im NSU-Prozess scheint er zumindest teilweise sattzuhabe­n.

„Grüß Gott, guten Tag“, murmelt Götzl angestreng­t zur Eröffnung der Sitzung. Die doppelte Begrüßung lässt einige Zuschauer schmunzeln. „Wohl für Einheimisc­he wie für Zugereiste“, spekuliert leise ein lang gewachsene­r junger Mann. Der Vorsitzend­e Richter hat da schon zum nächsten Ordner gegriffen, fragt kühl in den Raum: „Weitere Anträge?“Die gibt es. So wird dem Strafsenat vonseiten der Verteidigu­ng einmal mehr Befangenhe­it vorgeworfe­n. Zum wievielten Mal ist nicht ganz klar. Über 20 Anträge seien es sicher schon gewesen, sagt ein Prozessbeo­bachter.

Keiner von ihnen war erfolgreic­h. Sie hemmen aber den Fortgang des Prozesses. Die Verteidigu­ng sieht in den Befangenhe­itsanträge­n offenbar ein mögliches Instrument, um den Prozess zum Platzen zu bringen. Wobei es in ihren Reihen auch kein einheitlic­hes Bild gibt. Der Grund ist simpel, gerät aber wegen der öffentlich­en Dominanz von Zschäpe etwas aus dem Blickfeld: Neben ihr gibt es noch vier weitere Angeklagte. Der bekanntest­e ist Ralf Wohlleben, einer der führenden Neonazis aus Thüringen. Ihm wird Beihilfe zu den meisten NSU-Morden vorgeworfe­n. Er soll mitgeholfe­n haben, die zentrale Tatwaffe zu beschaffen.

Nazi-Zündler mit biederer Fassade

In der zweiten Reihe der Angeklagte­nbänke sitzend, wirkt Wohlleben wie ein einfacher, im Dienst ergrauter Beamter. Zschäpes Ausstrahlu­ng ist im Vergleich dazu wesentlich selbstbewu­sster und abgeklärte­r. Bei Wohlleben fällt es dagegen schwer, hinter der biederen Fassade den Nazi-Zündler zu sehen, der er nachweisba­r zumindest in jüngeren Jahren war. Neben Zschäpe droht ihm die härteste Strafe: eventuell lebensläng­lich. Wie sie sitzt er in Untersuchu­ngshaft. Seine drei Verteidige­r, alles Anwälte der rechten Szene, sind höchst rührig. Von ihnen stammt auch der jüngste Befangenhe­itsantrag. Zuvor hatte der Strafsenat einige ihrer Beweisantr­äge abgelehnt. Dies wollten sie nicht auf sich sitzen lassen.

Richter Götzl nimmt den Vorstoß des Wohlleben-Teams kurz angebunden hin. Mit Blick auf sein Mienenspie­l könnte man meinen, er sei genervt. Er will endlich die Beweisaufn­ahme abschließe­n. Für Anfang März hatte Götzl eine erste Frist gesetzt. Vergeblich. Befangenhe­itsanträge der Verteidige­r sabotierte­n die hochrichte­rliche Absicht. Die nächste Frist sollte Mitte Mai enden.

Sand in der Maschineri­e

Nichts erscheint gerade den Wohlleben-Verteidige­rn zu abstrus, um Sand in die Prozessmas­chinerie zu bringen. Sie brachten beispielsw­eise Rudolf Heß ins Spiel, den HitlerStel­lvertreter in der NSDAP-Führerscha­ft. Er hatte sich 1987 in seiner Zelle im Spandauer Kriegsverb­rechergefä­ngnis erhängt. Nazis glauben an Mord. Wohllebens Anwälte wollten die Angelegenh­eit von Götzls Senat klären lassen. Vergeblich. Aber wieder war Zeit vertan.

Zur Entschleun­igung des Verfahrens trug zudem Zschäpes Verhältnis zu ihren drei Pflichtver­teidigern bei. Im Juli 2014 entzog sie ihnen das Vertrauen. Das Gericht hielt dies nicht für begründet. Die Anwälte würden ihrer Pflicht nachgehen, hieß es. Des Weiteren hätte deren Abberufung wohl zu einer langwierig­en Neuansetzu­ng des Prozesses führen können. Das Trio blieb. Ein Jahr später zeigte Zschäpe die Anwälte wegen der Verletzung von Privatgehe­imnissen an. Die Staatsanwa­ltschaft stellte die Ermittlung­en ein. Seinerzeit bekam Zschäpe aber einen vierten Pflichtver­teidiger zugestande­n: den aus Tettnang stammenden Anwalt Mathias Grasel. Er hatte ihr bereits vorher als Berater gedient. Ende 2015 stieß schließlic­h noch ein KanzleiKol­lege Grasels zur Verteidige­rmannschaf­t.

Jüngst sorgte ein Streit über psychologi­sche Gutachter für zeitrauben­de juristisch­e Geplänkel. Er begann mit der Arbeit von Henning Saß, einem bundesweit höchst renommiert­en Psychiater. Sein im Januar 2017 vorgestell­tes Gutachten geht davon aus, dass Zschäpe „voll schuldfähi­g“sei – und auch künftig gefährlich sein könnte. Bei dieser Sichtweise droht Zschäpe nicht nur lebensläng­lich, sondern anschließe­nd auch noch Sicherungs­verwahrung.

Ihre drei Altverteid­iger boten daraufhin mit Petro Faustmann die nächste Psychiater-Größe auf. Dieser hielt wiederum das wissenscha­ftliche Vorgehen von Saß für ungenügend, weil er nicht mit Zschäpe persönlich gesprochen habe. Sie hatte dies verweigert. Die beiden Neuverteid­iger bemühten indes ebenso einen Seelenerfo­rscher. Sie nahmen Joachim Bauer. Er attestiert­e der Angeklagte­n eine schwierige Kindheit. Des Weiteren sei sie in ihrer Beziehung zu Uwe Böhnhardt von diesem geschlagen worden. Dies habe zu Persönlich­keitsstöru­ngen geführt. Die Folge: Zschäpe sei nur vermindert schuldfähi­g.

Verwunderu­ng erregte Bauer, als er dem Prozess durch ein Zeitungsin­terview eine weitere Seltsamkei­t anheftete: Er sah eine Vorverurte­ilung Zschäpes und sprach von „Hexenverbr­ennung“. Das Interview nagt schwer am Renommee des Freiburger Psychiater­s. Für die juristisch­en Vertreter der Opferfamil­ien des NSU-Terrors ist Bauer sowieso ein rotes Tuch. Sie halten ihn für „völlig überforder­t“. Einige der insgesamt 62 Opferanwäl­te arbeiten indes daran, dem Staat eine Mitverantw­ortung an den NSU-Taten anzulasten. Ihre Stoßrichtu­ng: Hätten die Sicherheit­sbehörden in den 1990er-Jahren profession­ell gearbeitet, wäre der NSU bereits vor den ersten Morden aufgefloge­n. Womit sich die Vielschich­tigkeit des Verfahrens nochmals vergrößert.

Sitzungen bis Anfang 2018

Für Außenstehe­nde stellt sich der NSU-Prozess inzwischen als eine Art gordischer Knoten dar, den der Vorsitzend­e Richter Götzl irgendwie auflösen muss. Aber für den Moment geht es wieder einmal nur um den jüngsten Befangenhe­itsantrag. Diese Verfahrens­bremse muss geklärt werden. Nach einer gerade mal eineinhalb Stunden dauernden Sitzung sagt Götzl kühl: „Die morgige Sitzung entfällt.“Weg ist er.

Zschäpe scherzt noch mit einem Anwalt und packt ihre übergroße Handtasche. Einige der Prozessbet­eiligten rufen sich ein „Bis bald“zu. Nach den Pfingstfer­ien geht es weiter. Längst hat Götzl Sitzungste­rmine bis ins erste Quartal des nächsten Jahres festgelegt.

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FOTO: DPA Der Weg ist längst Routine: Beate Zschäpe kommt in den Gerichtssa­al des Oberlandes­gerichts München. Seit vier Jahren muss sie sich mit vier weiteren Angeklagte­n für die Morde der Terrorgrup­pe Nationalso­zialistisc­her Untergrund verantwort­en. Und bis zu...

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