Wir sind älter als gedacht
Funde aus Marokko zeigen, dass unsere Anfänge schon rund 300 000 Jahre zurückliegen
Die Geschichte der Menschheit ist in stetem Fluss, aufgrund immer neuer Analysemöglichkeiten gibt es laufend neue Erkenntnisse. Die neueste: Der Homo sapiens ist schon 300 000 Jahre alt, nicht 200 000 wie bisher angenommen.
Erst vor zwei Wochen hatte eine Studie des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment der Universität Tübingen Zweifel an der lange Zeit als gesichert geltenden Annahme geweckt, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt. Dass sich im Osten des Kontinents vor rund 200 000 Jahren der moderne Mensch entwickelt hat, galt als allgemeiner Konsens. Dann stellte Madelaine Böhme ihre Studie vor: Sie legt nahe, dass unsere ältesten menschlichen Vorfahren nicht aus Afrika stammen, sondern aus Europa. Belegen sollten das ein Kieferknochen aus Griechenland und ein Zahn, der in Bulgarien gefunden wurde. Zwei Indizien, die vielen Kollegen Böhmes nicht ausreichen, um die geltende Theorie zu verwerfen.
Die neueste Entdeckung könnte mehr Anhänger finden. Ein internationales Forscherteam, an dem auch Professorin Katerina Harvati vom Senckenberg Centre beteiligt war, hat bei Ausgrabungen am Djebel Irhoud in Marokko 100 Kilometer nordwestlich von Marrakesch fossile Knochen des Homo sapiens und Steinwerkzeuge entdeckt und analysiert. Die Funde sind demzufolge rund 300 000 Jahre alt und damit rund 100 000 Jahre älter als die bis dato ältesten Homo-sapiens-Funde in Äthiopien. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler um Jean-Jaques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Abdelouahed Ben-Ncer vom nationalen Institut für Archäologie in Rabat: Der Homo sapiens hat sich schon viel früher als gedacht über ganz Afrika ausgebreitet.
Die Analysen und neuen Funde, vor allem die neu erhobene, sehr alte Datierung der Fundstätte Irhoud, zeigten, „wie weit die Abstammungslinie der modernen Menschen zurückgeht“, sagt die Tübinger Wissenschaftlerin Harvati, die in dem Projekt die Analyse der äußeren Anatomie der Schädel von der Fundstätte übernommen hat. Die Funde wiesen auch darauf hin, „dass die Forschung bisher vielen Regionen, die wichtig für die menschliche Evolution gewesen sein könnten, zu wenig Beachtung geschenkt hat“, sagte Harvati weiter. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass viele Populationen vom ganzen afrikanischen Kontinent an der Geschichte unserer Vorfahren beteiligt waren.“
Die Forscher haben nicht nur Erkenntnisse zur zeitlichen Einordnung gewonnen, sondern auch zur Beschaffenheit des Schädels. Demzufolge war das Gesicht der frühen Homo sapiens schon voll ausgeprägt, während der Hinterkopf eher wie bei älteren Vertretern unserer Vorfahren aussah: Er war nicht rund, sondern deutlich länger. „Das bedeutet, dass sich die Form der Gesichtsknochen bereits zu Beginn der Evolution unserer Art entwickelt hat“, folgert Philipp Gunz, Co-Autor der Studie. Die Form des Gehirns dagegen und womöglich auch seine Funktion habe sich erst in einer späteren Entwicklung verändert.
22 Skelettreste gefunden
Die Fundstelle in Marokko ist schon seit den 60er-Jahren bekannt. Neue Ausgrabungen seit dem Jahr 2004 förderten weitere Skelettreste zutage: Die Forscher fanden 22 versteinerte Überreste von Schädeln, Unterkiefern, Zähnen und Langknochen von mindestens fünf Individuen. Bei der Datierung der Funde halfen auch reichlich Tierknochen und Werkzeuge, die bei den Grabungen gefunden wurden.
Nicht an der Studie beteiligte Experten werten die Erkenntnisse Spiegel.online zufolge als Hinweis, dass die klaren Unterschiede zwischen modernen und archaischen Menschen verwischen werden, je dichter der fossile Befund wird. Und als Hinweis, dass es eine „weit längere Gleichzeitigkeit von archaischen und modernen Menschen überall in Afrika“gegeben habe.
Die Djebel-Irhoud-Fossilien seien die „am besten datierten Beweise für eine frühe vormoderne Phase in der Evolution des Homo sapiens“, erklärten Chris Stringer und Julia Galway-Witham vom Natural Museum in London. Allerdings gebe es zu wenig Fossilien um nachzuweisen, dass sich der moderne Mensch schon vor mehr als 250 000 Jahren in ganz Afrika verbreitet habe.
Ralf Schmitz von der Universität Bonn dagegen hält die Entdeckung für eine Sensation. Die Forscher seien sehr akribisch vorgegangen. Für Faysal Bibi vom Museum für Naturkunde in Berlin schließt die Studie eine Lücke in der Menschheitsgeschichte.