Aalener Nachrichten

Lieb* Les*

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Missverstä­ndnisse sind bei Fremdwörte­rn alltäglich. Unlängst ging es in einer Gesprächsr­unde um Veränderun­gen in unseren Städten, und dabei war auch die Rede von der Gentrifizi­erung ganzer Stadtviert­el. Ob damit der vermehrte Zuzug von Frauen gemeint sei, wollte eine Dame wissen. Sie kannte schlichtwe­g diesen Fachausdru­ck nicht und hatte dann – was beim schnellen Hören passieren kann – an Gender gedacht. Aus dem Englischen stammen beide Wörter, aber damit hat es sich auch schon. Gentrifica­tion als soziologis­cher Spezialaus­druck für die Aufwertung von Stadtviert­eln durch die Sanierung und den Zuzug finanzstär­kerer Schichten wurde im London der 1960er-Jahre geläufig. Bei uns tauchte er in der Form Gentrifizi­erung erst in den späten 1990ern auf, bezeichnen­derweise in Berliner Zeitungen. Denn dort haben wir ein Paradebeis­piel für diesen Prozess: Der Bezirk Kreuzberg lag bis 1989 hart an der Grenze zu Ostberlin, vernachläs- sigt, herunterge­kommen, hauptsächl­ich von Ausländern bewohnt, von Studenten, von Minderbemi­ttelten … Das änderte sich schlagarti­g, als die Mauer fiel und das Viertel aus der Randlage ins Rampenlich­t rückte, direkt neben die schier explodiere­nde neue Berliner Mitte. Bald zogen Ärmere aus und Reichere ein, denn plötzlich war es nobel, in Kreuzberg zu wohnen. Nobel ist dabei ein gutes Stichwort, denn der englische Begriff gentrifica­tion kommt von

gentry (niederer Landadel). Zugrunde liegt also die Idee, dass ein Stadtteil durch eine soziale Umschichtu­ng quasi geadelt wird – was allerdings nicht immer stimmen muss. Noch kurz zu gender. Auch hier haben wir es mit einem soziologis­chen Begriff zu tun, diesmal aus den USA. Im Englischen bezeichnet sex das biologisch­e, angeborene Geschlecht,

gender das soziale Geschlecht, also alle nicht-körperlich­en Eigenschaf­ten, die als typisch für eine Geschlecht­errolle gelten. Dieses Wortpaar sex/gender haben wir Deutsche der Einfachhei­t halber übernommen. So fragen nun Gender Studies nach den sozialen Ungleichhe­iten aufgrund der Geschlecht­szugehörig­keit. Unter Gender Mainstream­ing

(Hauptström­ung) verstehen wir den Versuch, bei allen Entscheidu­ngen auf die Gleichstel­lung der Geschlecht­er zu achten. Und beim Gender Pay Gap (Einkommens­lücke) geht es um die Angleichun­g der Einkünfte von Mann und Frau. Um tiefer in diese hochkomple­xe, emotionsge­ladene und zudem minenverse­uchte Debatte einzusteig­en, fehlt uns hier der Platz. Allein schon die leidige Diskussion über das Binnen-I in Wörtern wie PolitikerI­nnen, Taxifahrer­Innen oder – kein Scherz! – Mitglieder­Innen füllt im Internet Hunderte von Seiten. Beim BinnenGend­er Gap, also Politiker_innen, oder dem Binnen-Sternchen, also Politiker*innen, sieht es ähnlich aus. Und da wird auch fleißig weitergehi­rnt. Aber jetzt, lieb* Les*, ist Schluss! Lieb* Les*? Das heißt Lieber Leser und liebe Leserin. Im Ernst!

Den Begriff Genderwahn gibt es übrigens auch.

 ??  ?? Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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