Mays allerletzte Chance
Theresa May steht vor einem selbst verschuldeten Chaos. Die britische Premierministerin, die noch vor wenigen Monaten über eine solide Machtbasis verfügte, wird künftig einen schweren Stand haben. Die 60-Jährige hatte ohne Not Neuwahlen angesetzt – und dann in ihrer Wahlkampagne weitgehend versagt.
May hat sich verzockt. Den vorgezogenen Urnengang begründete sie mit dem „nationalen Interesse“, in Wirklichkeit ging es ihr aber nur um das Interesse ihrer Partei. Sie wollte einen Erdrutschsieg feiern, nicht zuletzt mithilfe der Wähler der EUfeindlichen, stark abgeschlagenen Ukip. Dieses Kalkül ging nicht auf. Die Premierministerin hat unterschätzt, wie sensibel eine verunsicherte Bevölkerung auf weitere Erschütterungen wie Terroranschläge reagiert. Dazu kam, dass sie nicht die richtigen Worte und Gesten fand – ein politischer Kardinalfehler. Zudem wurde nicht klar, für was May eigentlich steht. Das hat Jeremy Corbyn die Aufholjagd erleichtert.
Der 68-jährige Labour-Vorsitzende verfolgte unbeirrt seine Kampagne: populistisch, mit klar umrissenen Reformideen wie der Verstaatlichung von Eisenbahn und Post sowie mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser. Mag die Finanzierung solcher Vorhaben vage geblieben sein – erstmals seit einem Vierteljahrhundert kämpfte die alte Arbeiterpartei von einer klar linken Position aus. Aber Corbyns eigentliches Verdienst ist es, die junge Generation wieder zum Gang an die Wahlurnen bewegt zu haben, die Wahlbeteiligung war so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr.
May hat eine allerletzte Chance erhalten, belauert von innerparteilichen Rivalen wie Boris Johnson und David Davis. Sie ist jetzt auf die nordirischen Unionisten angewiesen, denen ein Ausgleich mit Brüssel stärker am Herzen liegt als manch englischem Nationalisten in der konservativen Fraktion. Die Premierministerin hat nun Gelegenheit, ihren Kurs eines bedingungslosen, harten Brexits zu überprüfen. Die 60-Jährige muss ihren Stil ändern, sie muss künftig auch die Interessen der 48 Prozent Brexit-Gegner im Auge behalten. Sonst wird sie das Jahresende nicht in der Downing Street erleben.