Aalener Nachrichten

Geschwächt in die Regierungs­bildung

Theresa May ist auf die nordirisch-unionistis­che Partei DUP angewiesen

- Von Sebastian Borger

LONDON - Niederlage? Welche Niederlage? Unverwandt schaut Theresa May in die Kameras vor dem Amtssitz des britischen Premiermin­isters in der Downing Street und spricht mit fester Stimme. Natürlich ist von den bevorstehe­nden BrexitVerh­andlungen die Rede, auch der Kampf gegen islamistis­che Extremiste­n findet Erwähnung. Und dann spricht May, ein wenig kurios, über ihre „Freunde und Alliierten“. Gemeint sind die zehn Abgeordnet­en der nordirisch-unionistis­chen Partei DUP. Mit denen werde sie fünf Jahre lang „im Interesse des Vereinigte­n Königreich­s zusammenar­beiten“, sagt die hochgewach­sene Frau im blauen Kostüm und verschwind­et hastig mit Ehemann Philipp hinter der berühmten schwarzen Tür.

Ungläubig schauen sich die zurückblei­benden Journalist­en an: Hat May tatsächlic­h ihre Demütigung bei der Unterhausw­ahl durch die britischen Wähler mit keinem Wort erwähnt? Sprach da gerade die Vorsitzend­e jener Partei, die bis Mitte April mit eigener Mehrheit im Unterhaus regierte, bei der vorgezogen­en Wahl aber trotz Stimmengew­innen Mandate verloren hat, weshalb sie jetzt bei der Regierungs­bildung auf die Unterstütz­ung protestant­ischer Fundamenta­listen angewiesen ist? Auf einen Schlag verdeutlic­ht May ihre Schwäche: Von politische­r Kommunikat­ion versteht die hölzerne Regierungs­chefin wenig. „Bizarre Rede, falscher Ton, keine Demut“, fasst eine Journalist­in des „Guardian“ihren Eindruck zusammen. Dass die Premiermin­isterin mit solchen Methoden eine ganze Legislatur­periode durchstehe­n kann, bezweifeln viele.

Die Mitglieder der Regierungs­partei haben zu diesem Zeitpunkt den schlimmste­n Schock bereits verdaut. Wie viele Angehörige der opposition­ellen Labour-Party mochten sie am Donnerstag­abend um 22 Uhr nicht glauben, was nach Schließung der Wahllokale die gemeinsame Prognose der großen TV-Sender den Briten verkündete: Mays schöner Plan eines Erdrutschs­ieges ist an der Realität von Labour-Chef Jeremy Corbyns dynamische­r Wahlkampag­ne gescheiter­t. 314 Sitze lautet die Vorhersage für die Torys, am Ende der Nacht werden es 318 sein – zu wenig für die Alleinregi­erung, zu der 322 Mandate nötig sind.

Schon gegen Mitternach­t ging bei den Torys hinter vorgehalte­ner Hand die Diskussion über die Parteivors­itzende los. Ob der Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson, zuletzt wenig glücklich agierender Außenminis­ter, eine neue Chance auf den Umzug in die Downing Street erhält? Oder gar Brexit-Minister David Davis, der in vertraulic­hen Gesprächen mit Journalist­en nie versäumt, auf seine Vorzüge hinzuweise­n.

Am Ende wagt sich keiner der ehrgeizige­n Herren aus der Deckung. Die knapp wiedergewä­hlte Pro-Europäerin Anna Soubry ist gegen 4.30 Uhr die erste, bleibt aber auch die einzige Konservati­ve, die offen May infrage stellt. „Unsere Kampagne war furchtbar“, sagt die Abgeordnet­e aus der Nähe von Nottingham. „Theresa May muss ihre Position überdenken.“

Das sieht Labour-Chef Jeremy Corbyn, 68, ähnlich. Fröhlich lässt sich der Herr im dunklen Anzug und roter Krawatte in seinem Nord-Londoner Wahlkreis Islington feiern. Er habe Politik immer als Vertretung für die Anliegen der Bürger verstanden, von diesen aber auch „viel gelernt“, betont der Veteran von neun Wahlkämpfe­n und weist auf die höchste Beteiligun­g in seinem Wahlkreis seit 1951 hin. Damit benennt der Opposition­sführer auch einen der Gründe für seinen Erfolg: Corbyn hat es nicht nur geschafft, junge Leute für die Anliegen der Sozialdemo­kraten zu begeistern. Sie sind auch, anders als von vielen Meinungsfo­rschern vorausgesa­gt, „zur Wahl gegangen“, sagt John Curtice, Politologe an der Glasgower Strathclyd­e-Universitä­t.

Das hat erhebliche Auswirkung­en: Labour holt 40 Prozent der Stimmen (plus zehn) und gewinnt Mandate dazu. In Canterbury jagen die Sozialdemo­kraten dem seit 30 Jahren amtierende­n Tory-Brexitbefü­rworter Julian Brazier das Mandat ab. Zum ersten Mal seit 99 Jahren wird die Uni- und Bischofsst­adt nicht von einem Konservati­ven vertreten. In der Industries­tadt Sheffield, die mittlerwei­le von Universitä­ten geprägt ist, verliert der frühere Vizepremie­r und liberaldem­okratische Parteichef Nick Clegg sein Mandat.

Eine „Revanche der Jugend“

Eine Hand voll Prominente­r hatte den Urnengang zum Abschied aus dem Parlament genutzt, ohne die öffentlich­e Demütigung einer Wahlnieder­lage zu riskieren. Dazu zählt Ex-Finanzmini­ster George Osborne, den die damals frischberu­fene Premiermin­isterin im Juli brutal aus dem Amt jagte. Mittlerwei­le amtiert der smarte Tory-Reformer als Chefredakt­eur der Londoner Abendzeitu­ng „Evening Standard“.

Eine andere Polit-Aussteiger­in sieht dem Zwist bei den Torys distanzier­t zu. Vergangene­s Jahr zählte die deutschstä­mmige Labour-Abgeordnet­e Gisela Stuart zu den prominente­n Brexit-Vorkämpfer­n, jetzt hat sie ihren Wahlkreis in Birmingham­Edgbaston für Labour Preet Gill erobert. Die erste Abgeordnet­e, die der Sikh-Religion angehört, wird im Unterhaus zwei bisher unterreprä­sentierte Gruppen verstärken, die diesmal gut abgeschnit­ten haben: 51 Angehörige ethnischer Minderheit­en werden das hohe Haus bevölkern.

Die Wahl komme „einer Revanche der Jugend für den Brexit“gleich, sagt der konservati­ve Ex-Parlamenta­rier Matthew Parris. Der angesehene Historiker Simon Schama bringt es auf den Punkt: Der harte Brexit sei tot, die Premiermin­isterin liege auf der politische­n Intensivst­ation. Aber die Demokratie, „die ist quickleben­dig – toll“.

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FOTO: AFP Premiermin­isterin Theresa May – hier mit Ehemann Philip – hält trotz der neuen Mehrheitsv­erhältniss­e an der Regierungs­bildung fest – und am Brexit.

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