Kunst in Zeiten des Umbruchs
Die 14. documenta in Kassel ist eröffnet – Ein Rundgang durch die Stadt
KASSEL - Es brennt. Zumindest sieht es so aus, wenn man in diesen Tagen am Fridericianum in Kassel vorbeikommt. Aus dem Turm des Ausstellungsgebäudes steigt Rauch auf. Wenn der Himmel klar ist, erinnert sein Anblick an eine Fabrik, deren Schlot vor sich hinqualmt. Wenn es aber windet und schwere Wolken über ihn hinwegziehen, hat man den Eindruck, als sei ein Brand außer Kontrolle geraten. Der Qualm ist Teil eines Kunstwerks von Daniel Knorr und weist darauf hin, dass die documenta 14 begonnen hat – nicht nur in Athen, sondern auch in Kassel.
Die weltweit größte und immer noch wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst hat zwar schon früher weitere Spielorte wie etwa Kabul gehabt, aber das Konzept des 1970 in Polen geborenen documenta-Leiters Adam Szymczyk ist diesmal ganzheitlich. Jeder der rund 160 Künstler soll an beiden Orten ausstellen. Das Spektrum der Themen unter dem Credo „Von Athen lernen“ist groß. Es geht um künstlerische Auseinandersetzungen mit unserer Gesellschaft in Zeiten des Wandels und der Krisen. Wobei die Kunst laut Szymczyk Brücken bauen und Anstöße zur Reflexion geben soll. In Kassel geschieht das jetzt an 32 Schauplätzen, die über die Stadt verteilt sind.
Belehrung inbegriffen
Die Künstler beschäftigen sich mit der Migration, Krieg, Grenzen, Zugehörigkeit, Heimat. Leider geht es oft belehrend und trostlos zu. Das kann einem auf die Nerven gehen. Dass politische Kunst mehr sein kann, zeigt beispielsweise Hiwa K. auf dem Platz vor der documenta-Halle. Der in Berlin lebende Künstler flüchtete in den 1990er-Jahren aus dem Irak. In Kassel präsentiert er eine Installation aus 20 Wasserrohren, die er gemeinsam mit Studenten der Kunsthochschule Kassel eingerichtet hat. Es gibt ein Bad, eine Küche, verschiedene Schlafzimmer oder ein Wohnzimmer mit bepflanztem Balkon. Man kann das Werk auf verschiedenen Arten lesen: als Versteck für Flüchtende, als Bild vom Wegfall der Privatsphäre oder als Utopie für aus den Nähten platzende Ballungszentren.
Andere Arbeiten der documenta setzen sich mit der Meinungsfreiheit auseinander. So auch der „Parthenon der Bücher“der argentinischen Künstlerin Marta Minujín. Sie hat auf dem Friedrichsplatz in Kassel den Tempel der Akropolis in Originalgröße aus ehemals verbotenen Büchern nachgebaut und erinnert damit an die hier im Mai 1933 erfolgte Bücherverbrennung unter den Nazis. Das monumentale Werk schlägt außerdem die perfekte Brücke zu Athen und hat zugleich etwas Magisches – vor allem nachts, wenn es bunt leuchtet. Allerdings ist der Tempel mangels Material noch nicht fertiggestellt. Minujín bittet nach wie vor um Bücherspenden.
Film, Musik, Performance
Kunst im Freien ist in Kassel ansonsten eher Mangelware. Ein Großteil des Programms besteht schließlich aus Film, Musik und Performance. Allerorten flüstert, stöhnt, pocht, klingt, flimmert etwas, räkeln sich Körper auf dem Boden. Diese Beiträge sind jedoch qualitativ ziemlich gemischt. Es gibt großartige Momente, etwa wenn Joar Nango seine Reise mit einem roten Bus von Tromsø in Norwegen über Athen bis nach Kassel per Video dokumentiert und so ein Bild Europas von seinen Rändern zeigt. Andere sind schlichtweg belanglos. Und die Mehrheit gehört eher zur Gattung der Dokumentation. Und da taucht dann allzu oft wieder der erhobene Zeigefinger auf. Nach dem Motto: Seht her wie schlecht die Welt doch ist.
Im Gedächtnis bleibt der unbehagliche Doku-Film „Commensal“des französisch-britischen Duos Paravel und Castaing-Taylor über den japanischen Kannibalen Issei Sagawa. In Nahaufnahme fährt die Kamera über sein ausgezehrtes Gesicht, während er von seinen Fantasien erzählt.
Überhaupt kommen auf dieser documenta Stimmen zu Wort, die sonst selten zu hören sind. Werke von Künstlern, die zum Volk der Samen, Maori und Aborigines gehören, aus indigenen Kulturen stammen oder ihre Wurzeln in Afrika haben. Die blutroten gigantischen Wollknäuelbänder der Chilenin Cecilia Vicuña etwa sind Vergrößerungen eines alten Rechensystems. Mit den Knoten markierten lateinamerikanische Ureinwohner Zahlen und Maße. Selbst die Namen der griechischen Künstler aus der Sammlung des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst (EMST) in Athen, die jetzt im Fridericianum vorgestellt werden, sind kaum bekannt.
Malerei und Fotografie
Einer der wenigen Stars ist US-Altmeister Bill Viola, der mit „The Raft“(2004) für die Hauptattraktion sorgt: Ein Film, der in Zeitlupe abläuft und zeigt, wie eine Gruppe von Menschen von einer gigantischen Wasserwelle umgeworfen wird.
Entgegen allen Unkenrufen haben auch die Malerei und Fotografie in Kassel ihren Platz. Einen großen Auftritt feiert beispielsweise die Farbfeldmalerei, während man in der Fotografie oft Schwarz-Weiß-Serien im Stil von Bernd und Hilla Becher findet. Schöne Beispiele dafür sind die tristen Landschaften des Magdeburgers Ulrich Wüst oder die verschiedenen „Heuhaufen“von Lala Meredith-Vula aus Sarajewo. Hier geht es wieder um die Spielarten von Heimat.
Eine Ausstellung wie die documenta lebt ebenso vom Ort, an dem sie stattfindet. Zumindest die Orte, die das Team um Adam Szymczyk in der sogenannten Nordstadt gefunden hat, sind außergewöhnlich: Industrieruinen, nüchterne Verwaltungsgebäude, leerstehende Läden sowie ein historischer Saal der Universität. Der documenta-Leiter zwingt den Besucher, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Und vielleicht kommt er auch zur Bar Matanzas am Schlachthof. Ein Projekt von MaríaMagdalena Campos-Pons, die aus Matanzas auf Kuba stammt und zusammen mit lateinamerikanischen Performern die Bar abends bespielen wird.