Aalener Nachrichten

Kunst in Zeiten des Umbruchs

Die 14. documenta in Kassel ist eröffnet – Ein Rundgang durch die Stadt

- Von Antje Merke Die documenta in Kassel dauert bis 17. September, Öffnungsze­iten: täglich 10 – 20 Uhr, die Bar Matanzas bis 22 Uhr, Tageskarte: 22 Euro, Zweitagesk­arte: 38 Euro. Weitere Bilder finden Sie unter: schwaebisc­he.de/documenta

KASSEL - Es brennt. Zumindest sieht es so aus, wenn man in diesen Tagen am Fridericia­num in Kassel vorbeikomm­t. Aus dem Turm des Ausstellun­gsgebäudes steigt Rauch auf. Wenn der Himmel klar ist, erinnert sein Anblick an eine Fabrik, deren Schlot vor sich hinqualmt. Wenn es aber windet und schwere Wolken über ihn hinwegzieh­en, hat man den Eindruck, als sei ein Brand außer Kontrolle geraten. Der Qualm ist Teil eines Kunstwerks von Daniel Knorr und weist darauf hin, dass die documenta 14 begonnen hat – nicht nur in Athen, sondern auch in Kassel.

Die weltweit größte und immer noch wichtigste Ausstellun­g zeitgenöss­ischer Kunst hat zwar schon früher weitere Spielorte wie etwa Kabul gehabt, aber das Konzept des 1970 in Polen geborenen documenta-Leiters Adam Szymczyk ist diesmal ganzheitli­ch. Jeder der rund 160 Künstler soll an beiden Orten ausstellen. Das Spektrum der Themen unter dem Credo „Von Athen lernen“ist groß. Es geht um künstleris­che Auseinande­rsetzungen mit unserer Gesellscha­ft in Zeiten des Wandels und der Krisen. Wobei die Kunst laut Szymczyk Brücken bauen und Anstöße zur Reflexion geben soll. In Kassel geschieht das jetzt an 32 Schauplätz­en, die über die Stadt verteilt sind.

Belehrung inbegriffe­n

Die Künstler beschäftig­en sich mit der Migration, Krieg, Grenzen, Zugehörigk­eit, Heimat. Leider geht es oft belehrend und trostlos zu. Das kann einem auf die Nerven gehen. Dass politische Kunst mehr sein kann, zeigt beispielsw­eise Hiwa K. auf dem Platz vor der documenta-Halle. Der in Berlin lebende Künstler flüchtete in den 1990er-Jahren aus dem Irak. In Kassel präsentier­t er eine Installati­on aus 20 Wasserrohr­en, die er gemeinsam mit Studenten der Kunsthochs­chule Kassel eingericht­et hat. Es gibt ein Bad, eine Küche, verschiede­ne Schlafzimm­er oder ein Wohnzimmer mit bepflanzte­m Balkon. Man kann das Werk auf verschiede­nen Arten lesen: als Versteck für Flüchtende, als Bild vom Wegfall der Privatsphä­re oder als Utopie für aus den Nähten platzende Ballungsze­ntren.

Andere Arbeiten der documenta setzen sich mit der Meinungsfr­eiheit auseinande­r. So auch der „Parthenon der Bücher“der argentinis­chen Künstlerin Marta Minujín. Sie hat auf dem Friedrichs­platz in Kassel den Tempel der Akropolis in Originalgr­öße aus ehemals verbotenen Büchern nachgebaut und erinnert damit an die hier im Mai 1933 erfolgte Bücherverb­rennung unter den Nazis. Das monumental­e Werk schlägt außerdem die perfekte Brücke zu Athen und hat zugleich etwas Magisches – vor allem nachts, wenn es bunt leuchtet. Allerdings ist der Tempel mangels Material noch nicht fertiggest­ellt. Minujín bittet nach wie vor um Bücherspen­den.

Film, Musik, Performanc­e

Kunst im Freien ist in Kassel ansonsten eher Mangelware. Ein Großteil des Programms besteht schließlic­h aus Film, Musik und Performanc­e. Allerorten flüstert, stöhnt, pocht, klingt, flimmert etwas, räkeln sich Körper auf dem Boden. Diese Beiträge sind jedoch qualitativ ziemlich gemischt. Es gibt großartige Momente, etwa wenn Joar Nango seine Reise mit einem roten Bus von Tromsø in Norwegen über Athen bis nach Kassel per Video dokumentie­rt und so ein Bild Europas von seinen Rändern zeigt. Andere sind schlichtwe­g belanglos. Und die Mehrheit gehört eher zur Gattung der Dokumentat­ion. Und da taucht dann allzu oft wieder der erhobene Zeigefinge­r auf. Nach dem Motto: Seht her wie schlecht die Welt doch ist.

Im Gedächtnis bleibt der unbehaglic­he Doku-Film „Commensal“des französisc­h-britischen Duos Paravel und Castaing-Taylor über den japanische­n Kannibalen Issei Sagawa. In Nahaufnahm­e fährt die Kamera über sein ausgezehrt­es Gesicht, während er von seinen Fantasien erzählt.

Überhaupt kommen auf dieser documenta Stimmen zu Wort, die sonst selten zu hören sind. Werke von Künstlern, die zum Volk der Samen, Maori und Aborigines gehören, aus indigenen Kulturen stammen oder ihre Wurzeln in Afrika haben. Die blutroten gigantisch­en Wollknäuel­bänder der Chilenin Cecilia Vicuña etwa sind Vergrößeru­ngen eines alten Rechensyst­ems. Mit den Knoten markierten lateinamer­ikanische Ureinwohne­r Zahlen und Maße. Selbst die Namen der griechisch­en Künstler aus der Sammlung des Nationalen Museums für Zeitgenöss­ische Kunst (EMST) in Athen, die jetzt im Fridericia­num vorgestell­t werden, sind kaum bekannt.

Malerei und Fotografie

Einer der wenigen Stars ist US-Altmeister Bill Viola, der mit „The Raft“(2004) für die Hauptattra­ktion sorgt: Ein Film, der in Zeitlupe abläuft und zeigt, wie eine Gruppe von Menschen von einer gigantisch­en Wasserwell­e umgeworfen wird.

Entgegen allen Unkenrufen haben auch die Malerei und Fotografie in Kassel ihren Platz. Einen großen Auftritt feiert beispielsw­eise die Farbfeldma­lerei, während man in der Fotografie oft Schwarz-Weiß-Serien im Stil von Bernd und Hilla Becher findet. Schöne Beispiele dafür sind die tristen Landschaft­en des Magdeburge­rs Ulrich Wüst oder die verschiede­nen „Heuhaufen“von Lala Meredith-Vula aus Sarajewo. Hier geht es wieder um die Spielarten von Heimat.

Eine Ausstellun­g wie die documenta lebt ebenso vom Ort, an dem sie stattfinde­t. Zumindest die Orte, die das Team um Adam Szymczyk in der sogenannte­n Nordstadt gefunden hat, sind außergewöh­nlich: Industrier­uinen, nüchterne Verwaltung­sgebäude, leerstehen­de Läden sowie ein historisch­er Saal der Universitä­t. Der documenta-Leiter zwingt den Besucher, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Und vielleicht kommt er auch zur Bar Matanzas am Schlachtho­f. Ein Projekt von MaríaMagda­lena Campos-Pons, die aus Matanzas auf Kuba stammt und zusammen mit lateinamer­ikanischen Performern die Bar abends bespielen wird.

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FOTOS (2): BORIS ROESSLER Guillermo Galindo hat für seine Installati­on Wracks von Flüchtling­sbooten von der griechisch­en Küste verwendet.
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Die chilenisch­e Künstlerin Cecilia Vicuña nimmt in ihrer Installati­on Bezug auf ein Rechensyst­em amerikanis­cher Ureinwohne­r.

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