Eine Fahrt ins Ungewisse
Harald Jahn rettet an der libyschen Küste Flüchtlinge vor dem Ertrinken und versorgt sie medizinisch
AALEN - „Diese Hoffnungslosigkeit der dicht an dicht sitzenden, verzweifelten Menschen lässt einen nicht mehr los.“Seit eineinhalb Wochen ist Harald Jahn wieder in Aalen. Knapp 14 Tage war er für die private Hilfsorganisation Sea-Eye im Mittelmeer vor der libyschen Küste unterwegs, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten und sie medizinisch zu versorgen. Elf Tage davon auf See. Mittlerweile ist bei ihm wieder der Alltag eingekehrt und er arbeitet als Orthopäde in seiner Crailsheimer Praxis. Doch den ersten Blick in die Schlauchboote, mit denen die Schlepper Afrikaner ohne Nahrung oder Wasser ins Ungewisse aufs Meer schicken, wird der 63-Jährige so schnell nicht vergessen.
Die Fotos, die Harald Jahn bei seinem Einsatz gemacht hat, sind bewegend. Rund 150 Menschen, die zusammengepfercht in einem der Schlauchboote rund neun Stunden in der prallen Sonne unterwegs waren und nicht mehr besitzen außer den Kleidern auf dem Leib. Die meisten fliehen vor Krieg und politischer Verfolgung, aber auch vor Armut und Hunger. In der Hoffnung auf eine zweite Chance und ein besseres Leben nehmen sie den beschwerlichen Weg in Kauf. Ohne zu wissen, was sie erwartet. Und doch kann niemand, der dieses Leid nicht unmittelbar vor Ort erlebt hat, nachvollziehen, wie es wirklich ist.
Auch Harald Jahn hat vor seinem Einsatz in den Medien viele Bilder gesehen. Und er wusste auch, was sich an der libyschen Küste abspielt. „Aber den Menschen, die in ihrer Notsituation bis zum Letzten ausgenutzt und gedemütigt worden sind, unmittelbar gegenüber zu stehen, ist etwas anderes und überwältigend. Bei ihrem Anblick fühlt man sich plötzlich sehr klein“, sagt Jahn.
Fischkutter stammt aus DDR-Zeiten
Obwohl der Aalener genügend mit seiner Praxis zu tun hat, die er gemeinsam mit einem Kollegen betreibt, und der Verdienstausfall für Hilfsprojekte wie bei Sea-Eye schmerze, hat sich Jahn dazu entschlossen, sich zu engagieren. „Ich wollte etwas Sinnvolles machen.“Auf die Organisation sei er im Internet gestoßen und habe sich dort beworben. Obwohl er als Orthopäde praktiziert, habe er viele Jahre lang als Unfallchirurg und Notarzt gearbeitet und fühlte sich den Aufgaben gewachsen. Am 27. Mai ging es für ihn per Flieger nach Valetta auf Malta. Nach einem ersten Kennenlernen der Crew, die mit ihm aus insgesamt elf Leuten bestand, und einer Einweisung in die Aufgaben ging es dann mit der Seefuchs, einem der beiden Schiffe der Organisation, aufs Meer. Dabei handelte es sich um einen umgebauten alten, aber hochseetüchtigen, 26 Meter langen Schiffskutter – ein Überbleibsel aus der DDRZeit und über 60 Jahre alt, erzählt Jahn. 700 Schwimmwesten gehören zur Ausstattung des Rettungsboots. Und natürlich Arztinstrumente, um Notfälle behandeln zu können.
In der ersten Woche ging es wettertechnisch turbulent zu. Starker Wind und ein heftiger Seegang haben der Crew zu schaffen gemacht. Fast alle waren seekrank, erinnert sich Jahn, der am Tag vier Stunden im Einsatz war und nachts drei Stunden lang die Stellung halten musste. In dieser Zeit konnten auch keine Flüchtlingsboote von der libyschen Küste starten. Doch es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Denn danach ging es Schlag auf Schlag. Zum ersten Einsatz, an dem mehrere private Organisationen beteiligt waren, wurde die Crew um Jahn von der zentralen Rettungsleitstelle der italienischen Küstenwache in Rom gerufen, die alle Rettungsaktionen koordiniert. Vier Holzboote und ein Schlauchboot mit insgesamt 400 bis 500 Flüchtlingen, darunter viele junge Menschen, trieben auf dem Meer. „Wir halfen dabei, diese mit Rettungswesten und Trinken zu versorgen, und transportierten mit unserem Schlauchboot einen Teil auf das große Transportschiff ,Vos Prudence’ von ,Ärzte ohne Grenzen’, das
sagt Harald Jahn.
die Menschen ans rettende Ufer brachte“, erzählt Jahn.
Küstenwache schießt auf Schiffe – Auf Menschen wird eingeschlagen
Vor seiner Abreise hegte seine Familie große Befürchtungen. „Die Situation in Libyen ist nicht berechenbar“, sagt der Vater dreier erwachsener Söhne. „Es gab schon Fälle, in denen auf Schiffe von Hilfsorganisationen geschossen wurde.“Auch bei den Einsätzen der Seefuchs sei die libysche Küstenwache stets präsent gewesen. „Diese wartete nur darauf, bis ein Flüchtlingsboot leer war. Dann wurde der Außenborder abmontiert und gestohlen. In manchen Fällen sogar, als noch Flüchtlinge im Schlauchboot waren. Auf diese wurde dann auch vehement eingeschlagen“, schildert Jahn seine Erlebnisse. Auch die Schlepper zerrten sie mit Gewalt ins Schlauchboot. Nicht selten musste Jahn neben Verätzungen auch Knochenbrüche behandeln.
Da die Seefuchs ebenso wie das zweite Schiff der Organisation, die SeaEye, zu klein ist, um eine größere Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen, musste Jahn die dehydrierten und mit Blessuren versehenen Menschen in den Schlauchbooten behandeln. Mitunter wurden diese auch auf verschiedene Rettungsinseln verteilt. Eine Ausnahme waren schwere Verletzungen, sagt Jahn. Diese wurden auf dem Schiff versorgt. Nur sechs Menschen von 150 hier aufnehmen zu können, während die anderen im Schlauchboot auf weitere Hilfe warten, schmerzt, sagt der 63-Jährige. Unter den Flüchtlingen, die er auf dem Schiff behandelt hat, waren auch zwei schwangere Frauen. Einer davon ging es extrem schlecht. „Ihr helfen zu können, war ein berührender Moment“, sagt Jahn. Berührend sei auch der Anblick von vielen jungen depressiven Menschen gewesen, die – falls sie gerettet werden – eine ungewisse Zukunft vor sich haben.
Erlebnisse lassen den 63-Jährigen nicht los
Hochachtung hat Jahn vor den Italienern, die die Flüchtlingswelle voll schultern – „mit mäßiger Unterstützung der EU“. Politische Vorstellungen, wie das Problem zu lösen sei, hat Jahn, aber diese verdränge er. Viele Flüchtlinge kommen nach der Ankunft auf dem Festland in ein Aufnahmelager, viele werden von hier auch wieder abgeschoben. „Das alles zählt in dem Moment der Rettung allerdings nicht. In diesem Moment geht es um jeden einzelnen Menschen“, sagt Jahn und verweist auf eine Zahl, laut derer Schätzungen zufolge allein in diesem Jahr mindestens 1300 Menschen ertrunken sind.
Die Erlebnisse an der libyschen Küste lassen Jahn nicht los. Obwohl er bei seiner Rückkehr in Aalen völlig erschöpft war und noch viele Erlebnisse verarbeiten muss, steht für ihn eines fest: „Ich will weiter meinen, wenn auch sehr kleinen Beitrag leisten, um wenigstens einigen Betroffenen zu helfen. Deshalb werde ich im September nochmals auf der Seefuchs mitfahren.“
„Ich will weiter meinen, wenn auch sehr kleinen Beitrag leisten, um wenigstens einigen Betroffenen zu helfen“,