Die Grenzen des Respekts
Der Vettel-Hamilton-Zwischenfall zeigt: Wenn es um den Titel geht, können Formel-1-Fahrer keine Freunde sein
BAKU (dpa/SID) - Das Friedensgespräch mit Sebastian Vettel sagte Lewis Hamilton umgehend ab. „Er hat doch meine Nummer gar nicht. Ich gebe die Antwort auf der Strecke“, knurrte der Mercedes-Pilot nach dem unglaublichen Adrenalin-Foul des deutschen WM-Spitzenreiters beim Formel-1-Grand-Prix von Baku. Vettels Wutrempler von Aserbaidschan brachte nicht nur das bislang so nette Titelrennen der beiden Topstars zur Explosion, sondern könnte für den Ferrari-Fahrer noch Folgen haben. Ein weiterer so schwerer Regelverstoß wie dieser beim nächsten Rennen in Österreich – und der Heppenheimer wird für einen WM-Lauf gesperrt.
Neun Strafpunkte – Sperre droht
Von Einsicht und Abbitte war der 29-Jährige aber weit entfernt. „Wir sind Männer hier, wir sind nicht im Kindergarten“, begründete Vettel seinen Ausraster in der 19. Runde, als er Hamilton absichtlich ans linke Vorderrad gefahren war. Trotzig äußerte Vettel immer wieder sein Unverständnis über das Urteil der Rennrichter, das auch drei weitere Strafzähler für sein Sündenregister umfasste. Mit nun neun Foulpunkten ist der Heppenheimer auch dort ganz vorn; zwölf Zähler ziehen einen automatischen Bann nach sich. Nach dem Red-Bull-Ring-Rennen (9. Juli) verjähren allerdings zwei von Vettels Strafpunkten aus der Vorsaison.
„Vettel ist normalerweise ein vernünftiger Kerl. Ich verstehe das nicht, vielleicht ist er verrückt“, sagte Mercedes-Teamaufsichtsratschef Niki Lauda. Tatsächlich hat Vettel nicht zum ersten Mal in seiner Karriere auf der Strecke die Nerven verloren. Vor allem seine Schimpftiraden am Boxenfunk zeigten in der Vergangenheit immer wieder das hitzige Temperament des viermaligen Weltmeisters. 2016 hat er selbst Rennleiter Charlie Whiting via Teamradio beleidigt.
Doch Vettels Rammstoß von Baku, der die furiose Siegfahrt von RedBull-Pilot Daniel Ricciardo überschattete, hatte wohl niemand kommen sehen. „Wir wissen, wie er sein kann. Ich hätte trotzdem nie gedacht, dass so etwas wie heute passiert“, sagte Hamilton. Der frühere Champion Damon Hill meinte: „Wenn du so etwas im Straßenverkehr machst, wirst du verhaftet.“
Der Eklat am Kaspischen Meer könnte den Wendepunkt im bislang so harmonischen WM-Zweikampf der beiden Alphatiere markieren. „Ab einem bestimmten Zeitpunkt können die Besten, die um den WM-Titel fahren, nicht mehr Freunde sein. Vielleicht haben wir heute die Grenzen des Respekts gesehen“, sagte Mercedes-Teamchef Toto Wolff, um später, weniger zurückhaltend, nachzulegen: „Es geht mir einfach nicht in den Kopf, dass ein vierfacher Champion einem Gegner ins Auto rumpelt!“
Dagegen wollte Vettel, der durch Platz vier im achten Saisonlauf nun 14 Punkte Vorsprung auf Hamilton hat, die Aufregung nicht verstehen: „Ich denke nicht, dass es viel zu bereden gibt. Ich werde mit Lewis sprechen, wenn die Medien nicht dabei sind, und dann geht es weiter.“
„Wir machen so etwas nicht“
Doch Hamilton verspürt vorerst keine Lust auf eine Aussprache. „Ich will ihn nicht treffen, das könnte sonst eskalieren“, sagte der Brite, den die nötige Reparatur eines gelockerten Nackenschutzes während des Rennens auf Platz fünf zurückwarf. Für den 32-Jährigen dürfte der Knall von Baku ungute Erinnerungen an das vergiftete Duell mit Nico Rosberg aus den Vorjahren wecken, als sich die beiden Mercedes-Kollegen auf und neben der Strecke immer mehr in Scharmützel verstrickten.
Erleichtert über den Abschied von Rosberg hatte Hamilton zuletzt das Kräftemessen mit Vettel sichtlich genossen, weil er den Ferrari-Mann – anders als seinen einstigen Teamgefährten – als Gegner auf Augenhöhe anerkennt. So gab sich der SilberpfeilFahrer nach Vettels Entgleisung erst recht enttäuscht. „Wir sind Weltmeister, wir machen so etwas nicht“, tadelte Hamilton den WM-Führenden und nannte ihn ein schlechtes Vorbild für alle Nachwuchspiloten.
Hamiltons Vorgesetzter Lauda fürchtet nach Vettels Attacke bereits die nächste Eskalationsstufe. „Irgendwann wird Lewis ihn schlagen, nicht mit dem Auto, sondern mit der Faust“, sagte der Österreicher – und meinte es wohl nur halb im Scherz.