Aalener Nachrichten

Jeder hat sein eigenes Schicksal

Bewegende Gedenkfeie­r zum 15. Jahrestag der Flugzeugka­tastrophe am Bodensee

- Von Alexei Makartsev „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern".

ÜBERLINGEN - Viktor Kostenko ist drei Tage lang, 2500 Kilometer weit mit dem Auto gefahren, um seiner toten Tochter nahe sein zu können. Der 79-Jährige aus der russischen Stadt Belgorod steht am Samstag an der Gedenkstät­te für die Opfer der Flugzeugka­tastrophe bei Überlingen und streicht zärtlich mit der Hand über eine der großen Stahlkugel­n. „Sie ist irgendwo hier. Ich habe das Gefühl, dass wir uns gleich treffen werden“, sagt der Mann mit schneeweiß­em Haar, in dessen dunklen Augen die Tränen glänzen.

Oksana Kostenko sprang am 1. Juli 2002 ein, um baschkiris­che Kinder nach Barcelona zu begleiten. Oksanas Reisefirma „Soglasije“unterlief ein Fehler. Die Gruppe hatte ihren regulären Flug verpasst, weil sie zum falschen Flughafen gebracht wurde. Die Kinder verbrachte­n daraufhin einen Tag in Moskau, ihre Reise wurde auf den Todesflug 2397 umgebucht. Kurz vor der Abreise rief die 30-Jährige bei ihrem Vater an. „Ich fragte sie, ob sie unbedingt mit muss“, erinnert er sich. „Sie weinte los und sagte: ,Jeder hat sein eigenes Schicksal. Ich mag diese Kinder und werde sie nicht im Stich lassen’. Dann legte sie auf.“

Dumpfer Schmerz im Herzen

Viktors Blick schweift über Stahlkugel­n bis zum glitzernde­n Bodensee in der Ferne. „Es ist schön hier. Zu schön, um zu sterben“, sagt langsam der alte Mann, der auch noch 15 Jahre nach dem Unglück in den Nächten von einem dumpfen Schmerz in seinem Herzen geweckt wird. „Du musst loslassen“, sagt sanft der 37jährige Taras. Der ergraute Bruder der verstorben­en Reiseleite­rin nimmt seinen Vater an die Hand und führt ihn zum Camphill-Schulgebäu­de in Brachenreu­the.

Der Empfang des Landes BadenWürtt­emberg für die Opfer des Flugzeugun­glücks fängt mit einstündig­er Verspätung an, weil man auf eine Gruppe von Hinterblie­benen wartet. In Moskau wütete am Freitag ein Sturm, viele Auslandsfl­üge fielen aus. Mehrere Familien aus Baschkirie­n stranden nach ihrer verspätete­n Ankunft am Flughafen München und werden an diesem Abend gar nicht nach Brachenreu­the kommen. Staatsmini­ster Klaus-Peter Murawski (Grüne) bittet zu Beginn der Gedenkfeie­r darum, das „furchtbare Unglück“nie zu vergessen, und zitiert Immanuel Kant:

Die Worte „Liebe“, „Schmerz“, „Erinnerung“und „Freundscha­ft“fallen oft an diesem Abend. Der Zusammenst­oß zweier Flugzeuge im Himmel nahe Überlingen habe in den Herzen der Einsatzkrä­fte, freiwillig­en Helfer und Hinterblie­benen tiefe Wunden hinterlass­en, sind sich alle Redner einig. Aber die nach dem Unglück entstanden­e, enge Verbindung der Menschen am Bodensee und in Russland mache den Verlust für alle etwas erträglich­er. Diese Brücken der Freundscha­ft und Liebe würden den Familien der Opfer Kraft geben, weiterzule­ben.

Eine Moschee für den toten Sohn

„Vener wäre vor einer Woche 30 geworden. An seinem Geburtstag besuchten uns 17 seiner früheren Schulkamer­aden, wir haben gemeinsam geweint und gelacht“, erzählt in einer Pause zwischen den Reden Junir Waleew aus Ufa. „In Baschkirie­n ist es üblich, dass ein Vater seinem Sohn ein Haus baut, wenn er erwachsen wird. Mein Sohn ist tot, darum habe ich für ihn eine Moschee gebaut. Das ist jetzt mein zweites Zuhause“, sagt traurig der weißhaarig­e, füllige Mann.

Der frühere Landrat in Baschkirie­n hat nach der Katastroph­e in Deutschlan­d einen Freund gefunden, mit dem er seitdem Kontakt hält. Auf der Gedenkfeie­r sitzt Junir neben Ulrich Lutz, im Jahr 2002 der Vizebürger­meister von Überlingen. Ein „prägendes Ereignis“in seinem Leben nennt Lutz die Kollision der Flugzeuge und spricht darüber, wie er kurz nach dem Unglück einen Russen zu den Überresten dessen toten Tochter begleitet habe. „Danach haben wir zum Mittagesse­n zu zweit eine Flasche Wodka getrunken – anders ging es einfach nicht.“

Die Baschkiren bringen zum 15. Jahrestag als Geschenk viel Honig mit und laden Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n ein, eines Tages den Wildhonig in ihrer Republik persönlich zu kosten. Zudem überreicht Sulfat Chammatow als Vertreter der Hinterblie­benen der Stadt Überlingen ein „Zertifikat“für 20 russische Zedern, die zur Landesgart­enschau in der Stadt 2020 gepflanzt werden sollen. Der 57-Jährige aus Ufa hat 2002 seinen elfjährige­n Sohn Arthur verloren und beschuldig­t die Schweizer Flugsicher­ung „Skyguide“, deren Lotse Peter Nielsen in der Unglücksna­cht Dienst hatte, sich vor dem Eingeständ­nis ihrer Schuld zu drücken.

Auf dem Weg zur Gedenkfeie­r war Chammatow in Zürich zwischenge­landet, um mit seiner Familie der „Skyguide“-Führung einen Besuch abzustatte­n. „Das Gespräch war schwierig“, sagt er. „Sie erkennen das Urteil eines spanischen Gerichts nicht an, nachdem sie eine Kompensati­on zahlen müssen. Wir werden wohl juristisch vorgehen müssen. Der Schandflec­k auf dem Ansehen unserer toten Kinder bleibt leider bestehen.“

Bei der Andacht in Brachenreu­the am Abend geht Einiges schief. Der Regen setzt ein. Erst versagen die Lautsprech­er ihren Dienst, dann stottert der Generator, und die Lichter an der Gedenkstät­te am Waldrand gehen aus. Doch im Dunkel, das nur von einigen Taschenlam­pen erleuchtet wird, ist es so still, dass die etwa 200 Versammelt­en die leise Stimme einer Mutter deutlich hören können, die die 52 kleinen Opfer der Katastroph­e um Vergebung bittet: „Wir sind schuld. Wir haben euch nicht beschützt.“

72 Luftballon­s

Sie bittet um eine Schweigemi­nute für die Kinder, um „ihre Stimmen zu hören“. Danach werden die Namen aller 72 Toten vorgelesen. 72 weiße Luftballon­s fliegen nacheinand­er in den dunklen Nachthimme­l über Überlingen. Irgendwo in den Bäumen zerplatzt einer von ihnen mit einem lauten Knall.

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FOTO: ALEXEI MAKARTSEV Reisten zum 15. Jahrestag dess Unglücks an: Anna Kostenko, die Mutter der toten Reiseleite­rin Oksana, gemeinsam mit ihrem Sohn Taras an der Gedenkstät­e in Brachenreu­the.

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