Sam Syson, 17, erschossen ...
In New Orleans kämpft ein Pfarrer gegen den Waffenwahn der Amerikaner
NEW ORLEANS - Tremé, der Name hat Klang. In Tremé, dem ältesten schwarzen Viertel Amerikas, gleich hinterm berühmten French Quarter, liegen die tiefsten Wurzeln des Jazz. Als David Simon, einer der besten Erzähler des US-Fernsehens, einen Schauplatz suchte, um den schwierigen Neubeginn in der sturmverwüsteten Stadt zu dokumentieren, fiel die Wahl auf Tremé. Stark im Kommen, gleichwohl ursprünglich geblieben, so ungefähr werben die Tourismusvermarkter heute für die Wiege des Jazz. Nur die Tafeln, die Bill Terry an den schmiedeeisernen Zaun vor seiner Kirche gehängt hat, passen nicht so recht ins folkloristische Bild. Man könnte sogar sagen, dass sie ein Störfaktor sind.
Es sind Mahnmale für die Opfer des Schusswaffenwahns, jede um die zwei Meter hoch, eng beschrieben mit den Namen von Getöteten. Ständig fügt Terry, der Pfarrer der St. Anna’s Episcopal Church, neue Namen hinzu, Namen aus ganz New Orleans. Anfangs ließ er sie eingravieren, aber das dauerte zu lange, zu schnell wurde die Liste länger und länger. Inzwischen schreibt er sie mit dickem, wasserfestem Filzstift auf die Tafeln. Links der Name, daneben das Alter, rechts, wie jemand ums Leben kam. Sam Syson, 17, erschossen.
„The Big Easy“– wie ein Magnet zog und zieht die lässige Stadt junge Amerikaner an, die sich erproben wollen in einem Milieu, das sich einerseits karibisch entspannt anfühlt und sich andererseits in rasantem Tempo ändert. Es ist eine Erfolgsgeschichte, aber sie ändert nichts daran, dass es Ecken der Stadt gibt, in denen sich gar nichts ändert, jedenfalls nicht zum Besseren. Die Zahl der Mordopfer steigt wieder. Im vorigen Jahr lag sie bei 175, der höchste Wert seit 2012. In diesem Jahr wird die Kurve weiter nach oben gehen, fürchtet Terry. „Zahlen sind hilfreich, aber sie nehmen den Opfern auch das Gesicht. Ich will die Namen der Anonymität der Statistik entreißen.“Corey Harris, 36, erschossen.
Harris war Drogendealer, er wurde überfallen, als er mit 3000 Dollar in der Tasche unterwegs zu einer Bank war, um Rechnungen zu bezahlen, die Miete, Strom, Telefon. Wie eben einer zahlt, der kein Konto besitzt. Vermeintliche Freunde hätten dem Mann eine Falle gestellt.
Eine Rose für jeden Erschossenen
An jedem Sonntag lesen sie beim Gottesdienst in St. Anna’s Church die Namen der Toten. „Ich will nichts im Unklaren lassen. Ich will dass die Leute dieses Wort hören: erschossen“, sagt Terry. „Tyrone Matthews, 23, erschossen.“Einmal im Monat marschieren sie mit Rosen zum Hauptquartier der Polizei, eine für jeden Verstorbenen.
Angefangen hat es im Juli 2005. In den Abendnachrichten war von einer Schießerei die Rede, Terrys Frau wollte wissen, wo genau es passiert war. „Und in derselben Nacht fielen Schüsse in unserer Straße.“Auf einem Parkplatz habe ein junger Mann gelegen, leblos, neben ihm, völlig aufgelöst, seine schreiende Freundin. Am nächsten Morgen begann Terry, Namen der Opfer der Gewalt in ein Heft einzutragen. Zwei Jahre später hängte er die erste Tafel an seinen Kirchenzaun.
Eine schlichte Gedenkstätte sollte es werden – wie das Vietnamkriegsmemorial in Washington, wo auch nur Namen auf einer Mauer aus schwarzem Granit stehen. Im Lauf der Zeit wurde daraus eine Art Schrein – für Leute, die wissen, dass sich die Stadt New Orleans sonst kaum für ihre getöteten Söhne, Brüder, Väter interessiert. „Weil die Schüsse Routine sind“, sagt Terry, „und weil sich die meisten damit abgefunden haben.“Terry nicht, aber „als pazifistischer Prediger, der Waffen in Bausch und Bogen verdammt“, möchte er nicht gezeichnet werden.
In Wahrheit ist er ein Mensch voller Widersprüche, so widersprüchlich, wie sich Amerika mit dem Thema Waffen beschäftigt. Seine Eltern stammen aus New York, er wuchs in New Orleans auf. Er mag Warren Buffett, den Milliardeninvestor, erstens, weil Buffett Erfolg hatte, zweitens, weil er versprach, sein Vermögen zu 99 Prozent zu verschenken. Er mag aber auch Bernie Sanders, den linken Wahlkampfrivalen Hillary Clintons, der die wachsende soziale Ungleichheit zum Thema machte, eine Kluft, die Terry pervers nennt. Dabei war er mal ein Konservativer, ein Fan des alten George Bush. Für Lloyd’s of London versicherte er Schiffe, ehe ihn eine familiäre Tragödie erschütterte. Seine Tochter nahm sich im Teenageralter das Leben, worauf sich der frühere Theologiestudent wieder der Kirche zuwandte.
Es sei nicht so, dass er Waffen hasse, sagt Terry und zählt auf, was alles in seinem Waffenschrank steht. Zum Beispiel sechs Schrotflinten, die meisten mit Hingabe gepflegte Erbstücke. Und eine Smith & Wesson, mit der sein Großvater im Ersten Weltkrieg kämpfte. Vier Jahre diente der Geistliche – „Ich bin sehr stolz darauf“– bei der Kriegsmarine. An jedem Thanksgiving-Fest im November geht es zum Tontaubenschießen, alte Familientradition. „Ich mag Waffen. Was ich nicht mag, ist die Symbolik, mit der wir sie überladen.“Waffen zum Freiheitssymbol zu verklären, wie es die Flintenlobbyisten der National Rifle Association NRA tun, das geht dem Pfarrer gegen den Strich. „Wir tun ja so, als wären wir noch immer Cowboys. Als wäre ein jeder von uns ein zweiter John Wayne.“Freie Bürger, die sich, wenn es denn sein muss, gegen einen Tyrannen zur Wehr setzen, und am Ende siegt Lady Liberty – so ungefähr predigt es die NRA. Und so regelt es der zweite Zusatzartikel der Verfassung.
Die Knarre zum Symbol dieser großen amerikanischen Freiheit zu verklären, das fordert Terrys Widerspruch heraus. Es geschehe ja in einem Land, dessen Autofahrer sich widerspruchslos ans Tempolimit halten. 55 Stundenmeilen und weitgehend uneingeschränkter Waffenbesitz, wie geht das zusammen? „Sie wollen, dass ich darin einen Sinn erkenne. Es macht keinen Sinn“, antwortet Terry.
Ein Langzeitprojekt
Die Hoffnung, dass sich bald etwas ändert an den Vorzeichen der Waffendebatte, hat er aufgegeben. Eine lautstarke, gut organisierte Minderheit hält die Politik im Namen John Waynes und der Cowboy-Freiheit in Schach. Schon unter den Demokraten war es schwer, unter den Republikanern, mit Donald Trump im Weißen Haus, werde es noch viel schwerer. Allein eine mächtige Bürgerbewegung, glaubt Terry, könnte so etwas wie eine Wende bewirken. Eine Bewegung mit ähnlich langem Atem, wie ihn die Bürgerrechtler um Martin Luther King hatten. Vielleicht seien seine Tafeln an der Esplanade Avenue ein kleiner Anfang, aber Illusionen mache er sich keine. „Es reicht nicht, dass wir nach einem besonders schockierenden Amoklauf drei Monate lang protestieren. Wir müssen länger durchhalten.“