Aktionismus am Brenner als Wahlkampfstrategie
Speziell für Tiroler ist der Brenner nicht irgendein Alpenpass. Er gilt als schmerzendes Symbol für die Abtrennung Südtirols nach dem Ersten Weltkrieg. Umso mehr wurde nach dem österreichischen EU-Beitritt 1995 beidseitig des Passes gefeiert. Die Europa-Idee sollte die Trennung kaschieren. Österreich als anerkannte Schutzmacht der Südtiroler sah fast schon die Geschichte als friedvoll revidiert an. Umso mehr erstaunt, dass dies plötzlich alles keine Rolle mehr spielt. Durch Schützenpanzer verstärktes Militär soll im Zweifelsfall die Stellung am Brenner halten. Wer von Süden nach Norden will, darf sich demnächst womöglich in eine Warteschlange einreihen, die bis hinunter in die Südtiroler Hauptstadt Bozen reicht.
So soll ein vermeintlicher Ansturm aufgehalten werden, von dem nicht einmal klar ist, ob er überhaupt kommt. Es geht dabei um Flüchtlinge – natürlich. Nur sie können gegenwärtig entsprechend drastische Maßnahmen auslösen. Und in Wien zeigt sich die Regierung wegen des angedrohten italienischen Verhaltens alarmiert. Der von den Österreichern wenig geschätzte südliche Nachbar hat nämlich einmal mehr darauf verwiesen, dass er die Folgen einer Zuwanderung übers Mittelmeer nicht im großen Maßstab alleine schultern kann. Dies dürfte zutreffen. Bereits Ende 2015 hat Italien Flüchtlinge entgegen der EU-Regeln nach Norden weitergeschickt.
Heuer sieht es nun so aus, dass das Stiefelland wieder vermehrt Erstziel jener ist, die übers Mittelmeer kommen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat am Montag verlautbart, es hätten seit Jahresanfang 85 000 Flüchtlinge von Libyen aus Italien erreicht – eine 19-prozentige Zunahme im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Ob man deshalb aber gleich nördlich des Brenners an den Rand der Panik geraten muss, ist eine gute Frage. Sie lässt sich auch nicht direkt beantworten. Gut vorstellbar, dass die Wiener Regierung eher eine andere Furcht plagt: nach den Wahlen im Oktober eine überstarke rechtsgerichtete FPÖ im Lande zu haben.
Wien steht nicht allein da
Gegenwärtig kämpfen die beiden Koalitionspartner in Wien um ihr politisches Gewicht. Die SPÖ hat durch Kanzler Christian Kern wieder an Profil gewonnen. Ihr Partner ÖVP konnte sich dieser Tage sogar neu erfinden. Die Konservativen wollen nun gehorsamst ihrem Jung-Messias Sebastian Kurz folgen. Dieser verficht zwar in der Flüchtlingspolitik auch rechte Positionen. Sollte sie aber zentrales Wahlkampfthema werden, könnten die Wähler doch eher dem FPÖ-Original zu neigen. Weshalb SPÖ wie ÖVP Aktionismus an der Grenze als wahlkämpferische Vorsorgemaßnahme betrachten dürften.
Eines muss in diesem Zusammenhang aber noch erwähnt werden. Beim Umgang mit Grenzen zu Italien steht Wien nicht alleine da: Frankreich kontrolliert schon. Die Deutschen tun dies seit fast zwei Jahren in der zweiten Linie in Südbayern. Weshalb es unfair ist, das Kontrollthema nur an den Österreichern festzumachen. Betrachtet man die Entwicklung aus einer übergeordneten Warte, wären ihre am Brenner aufmarschierten Soldaten letztlich nur ein weiterer Hinweis für das Versagen der EU in der Flüchtlingspolitik.