Aalener Nachrichten

Der magische Moment

Vor 25 Jahren gewann Uwe Peschel mit dem Straßenvie­rer die erste gesamtdeut­sche Goldmedail­le – Sieg symbolisie­rte eine neue Zeitrechnu­ng

- Von Alexander Tutschner

RAVENSBURG - Der Moment für die Ewigkeit, der eine Tag, an dem man etwas ganz Besonderes erreicht: Für jeden Spitzenspo­rtler ist er das Ziel. Der Tag, an dem sich jahrelange­s, hartes Training auszahlt. Für Rennradfah­rer Uwe Peschel war es der 26. Juli 1992, als er mit dem deutschen Straßenvie­rer das 100-KilometerZ­eitfahren bei den Olympische­n Spielen in Barcelona gewann. Es war gleichzeit­ig die erste Goldmedail­le für das wiedervere­inigte Deutschlan­d, die Peschel, Bernd Dittert, Michael Rich und Christian Meyer am ersten Wettkampft­ag der 25. Olympische­n Sommerspie­le genau heute vor 25 Jahren erkämpften.

Adrenalink­ick, Euphorie, Grenzerfah­rung: Es war der eine Moment, als Peschel und seine drei Kollegen merkten, dass sie an diesem Tag den großen Coup landen können. „Sechs Sekunden vorne“, brüllte Trainer Peter Weibel auf dem Formel-1-Kurs Circuit de Barcelona-Catalunya seiner Mannschaft aus dem Begleitfah­rzeug mit dem Megafon zu. „Das gibt dir Flügel“, sagt Peschel heute, „plötzlich war uns klar, wir können es schaffen.“Schon 75 Kilometer lang hatten sich Dittert, Meyer, Rich und Peschel gequält. Wie ein Zug waren sie rund eineinhalb Stunden mit ihren schwarzen Carbonräde­rn über die Betonpiste gerast, die eigentlich für Formel-1-Boliden gebaut wurde. Und dann noch die drückende Hitze.

Ein bewegender Tag

Nur zweieinhal­b Jahre zuvor bekamen Millionen Menschen auch einen Kick, allerdings anderer Natur. Als am 9. November die Berliner Mauer fiel, war der 19-jährige Peschel in seiner elterliche­n Wohnung in Ostberlin. Er hatte die DDR nie als Gefängnis empfunden, nichts vermisst. „Als Sportler bist du ja nicht eingesperr­t“, sagt er. Er war auf Wettkämpfe­n auch „draußen“, wie er sagt, in Belgien etwa. Als die Grenzbäume an diesem Tag aufgingen, machte sich auch Peschel zusammen mit zwei Kollegen aus seiner Trainingsg­ruppe auf zur Bornholmer Straße. Sie trauten sich aber nicht über die Grenze. Denn am nächsten Tag war Abfahrt zum Trainingsl­ager in Bulgarien. „Wir dachten, wenn sie jetzt wieder zumachen, kommen wir nicht mit“, sagt Peschel heute. „Wir waren eben Sportler.“

„Dennoch war es ein bewegender Tag“, sagt er über den 9. November. „Damals haben sich Möglichkei­ten erschlosse­n, die man vorher nicht vermisste, weil man sie nicht kannte.“

Eigentlich wollte Peschel gar nicht Radprofi werden. Sein Vater Axel Peschel aber war im Osten ein berühmter Radfahrer, Sieger der Internatio­nalen Friedensfa­hrt 1968, dem Pendant zur Tour de France im Westen. Er war später in Ostberlin einer der bekanntest­en Trainer der DDR beim SC Berlin, arbeitete auch mit Peter Becker zusammen, dem Ziehvater des späteren Tour-deFrance-Siegers Jan Ullrich.

Er wollte seine Begeisteru­ng für den Radsport dem Sohn weitergebe­n und besorgte ihm mit zehn Jahren ein Sportrad. „Ich bin den ganzen Sommer ein-, zweimal gefahren, im nächsten Jahr hat es mein Vater dann jemand anderem gegeben“, sagt Uwe Peschel. Er machte seine Schule fertig und wollte Förster werden. Zu seinem Lehrbetrie­b, etwa 30 Kilometer von Ostberlin, fuhr er dann hin und wieder mit dem Rad. „Das hat mir viel Spaß gemacht“, sagt er. Und plötzlich ging es doch los mit der Radkarrier­e. Der Vater meldete ihn mit 17 in einem kleinen Betriebssp­ortverein an. Sofort gewann Uwe Peschel ein Zeitfahren und merkte, dass er für diese spezielle Disziplin eine Gabe hatte. Der Kampf gegen die Uhr – das sollte immer seine Sache bleiben. „Was mir aber immer gefehlt hat, ist die Ausbildung im taktischen Verhalten im Rennen“, sagt Peschel heute. Er sei zwar kein Doofer, „aber die Theorie umsetzen, ist oft schwer“. Er wurde nie ein großer Rundfahrer, feierte seine größten Erfolge immer bei Einzelzeit­fahren.

Schnell wurde er zu einem der besten Zeitfahrer der DDR und kam in den Nationalma­nnschaftsk­ader. Nach erfolgreic­hen Testrennen rückte er 1989 in den ersten Vierer auf und wurde mit diesem 1990 Vizeweltme­ister in Japan, immer noch mit dem DDR-Team. Dritter wurde damals der westdeutsc­he Vierer und Peschel lernte seinen späteren Teamkolleg­en Michael Rich kennen, der wie er zur Dopingprob­e musste. Mit einigen Bierchen versuchten beide die Urinprobe zu erzwingen. Während Rich aber mit dem Auto abgeholt wurde, musste Peschel im japanische­n Linksverke­hr angetrunke­n mit dem Rad zurück zum Hotel, ohne Straßensch­ilder lesen zu können. „Ich bin angekommen“, sagt er mit einem Augenzwink­ern, auch wenn er sich nicht mehr wirklich an die Fahrt erinnert. Zum Thema Doping hat Peschel im Übrigen eine klare Meinung. „Man kann immer Nein sagen“, ist er überzeugt. Das sagt ein Radprofi aus der DDR, der in der Hochzeit von Epo aktiv war? Jeder befasse sich in diesem Sport mit Möglichkei­ten zur Leistungss­teigerung, sagt Peschel. Aber es gebe eben eine Grenze. „Vor dem Strich ist okay, über dem Strich ist Betrug“, sagt er. Man habe als Profi die Pflicht alles zu tun, was möglich sei, aber eben nicht mehr. „Betrug ist Betrug.“Und: „Es wird immer Menschen geben, die betrügen.“

Wie auf politische­r Ebene sollte auch im Radsport bald zusammenwa­chsen, was zusammenge­hört. Bei der WM 1991 in Stuttgart holte der erste gesamtdeut­sche Vierer Platz zwei. Schon bald nach Stuttgart stand das nächste Projekt an, die Vorbereitu­ng auf die Olympische­n Spiele in Barcelona. Favorit war Weltmeiste­r Italien. Peschel galt längst als sichere Bank für den neuen Olympiavie­rer, er war die Zugmaschin­e der Gruppe, sprach die Trainingsi­nhalte mit Trainer Peter Weibel ab.

Dann der große Tag. Nach der Eröffnungs­feier am Samstag stand das 100-Kilometer-Mannschaft­szeitfahre­n bereits am ersten Wettkampft­ag am Sonntag auf dem Programm. „Es war brutal heiß“, erinnert sich Peschel noch an den Tag in Barcelona, „für mich aber ideale Bedingunge­n, mir liegt das.“Wenn er heute die Bilder des Rennens sieht, spürt er wieder die Nervosität und die Spannung. Auf dem „nicht ganz einfachen Kurs“über die Formel-1-Strecke von Barcelona starteten die Deutschen vor Italien. Bald war klar, dass es wieder zwischen diesen beiden Vierern um Gold gehen würde. Italien führte lange, 13 Sekunden Rückstand für Deutschlan­d, 25 Sekunden, noch 14 Sekunden bei Kilometer 50. Und nach 75 Kilometern kam dann eben jener magische Moment, erstmals lag Deutschlan­d vorne. Von diesem Zwischener­gebnis beflügelt, raste der deutsche Vierer ins Ziel.

Noch ein paar Minuten galt es abzuwarten, bis Italien im Ziel war. „Das war schon geil“, sagt Peschel. „Erster Tag, erste Medaille und dann gleich Gold“, sagt er. Siegerehru­ng, Deutsches Haus, Party, die Feierlichk­eiten dauerten etwa eine Woche. Und es war die erste Goldmedail­le für das wiedervere­inigte Deutschlan­d. Und der erfolgreic­he Vierer war für Peschel auch ein Symbol für die neue Zeit. Zwei Ossis (Peschel/ Meyer) und zwei Wessis (Dittert/ Rich) bildeten ein Team. „Für die Presse war das ein großes Thema“, sagt Peschel heute, „aber wir haben diese Grenze im Team nie gesehen.“

„Damals haben sich Möglichkei­ten erschlosse­n, die man vorher nicht vermisste, weil man sie nicht kannte.“

Uwe Peschel über den Fall der Mauer

Die vier galten jetzt als Vorzeigeat­hleten, wurden überall rumgereich­t, besuchten den Bundespräs­identen Richard von Weizsäcker, das Sportstudi­o, die Bambiverle­ihung. „Es holt dich immer wieder ein“, sagt Peschel mit etwas Stolz. „Du bist dann eben immer Uwe Peschel, Olympiasie­ger.“

Nach einigen Startschwi­erigkeiten im Profizirku­s fand Peschel 1999 seine Heimat beim deutschen Team Gerolstein­er, bei dem er 2005 seine Karriere beendete. Über seinen Radfahrkol­legen Tobias Steinhause­r verschlug es Peschel zunächst ins Allgäu, später nach Kressbronn an den Bodensee, wo er heute mit seiner Frau und zwei Söhnen lebt. Er ist dem Radsport weiter verbunden, arbeitet unter anderem während der Tour de France für die ARD und ist als Trainer und Berater aktiv. Bei seinem Projekt „Move“(in Zusammenar­beit mit der „Schwäbisch­en Zeitung“) will er seine Begeisteru­ng fürs Rennradfah­ren auch an Anfänger und Amateure weitergebe­n.

„Für mich war die Wiedervere­inigung ein Gewinn“, sagt Peschel heute, auch über die Zeit nach seinem Olympiasie­g. „Ich gehöre zu den Menschen, die davon nur profitiert haben.“Peschel glaubt, dass es mit der DDR ohnehin nicht weitergega­ngen wäre. „Natürlich gab es auch schöne Dingen im Osten“, sagte er. Aber denen nachzutrau­ern, war nie sein Ding. Er schaut lieber nach vorne.

Über den legendären StraßenVie­rer von Barcelona sagt Peschel, „wir haben noch Kontakt“, Michael Rich und Christian Meyer treffe er regelmäßig, Bernd Dittert, mittlerwei­le beruflich auf Mallorca, seltener. Peschel hofft, dass man bald zusammen anstoßen wird mit einem spanischen Wein auf den magischen Moment am 26. Juli 1992, als die vier etwas ganz Besonderes schafften.

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FOTO: DPA Gold für Deutschlan­d im 100-Kilometer-Mannschaft­szeitfahre­n (von links): Bernd Dittert, Christian Meyer, Uwe Peschel und Michael Rich.
 ?? FOTO: DPA ?? 26. Juli 1992: Bei glühender Hitze fährt die deutsche Mannschaft auf dem Formel-1-Kurs in Barcelona zu Gold, ganz links Uwe Peschel.
FOTO: DPA 26. Juli 1992: Bei glühender Hitze fährt die deutsche Mannschaft auf dem Formel-1-Kurs in Barcelona zu Gold, ganz links Uwe Peschel.
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FOTO: PRIVAT Uwe Peschel ist heute noch immer im Radsport engagiert.

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