Aalener Nachrichten

Bei den Toteislöch­ern tobt das Leben

Die Eggstätt-Hemhofer Seenplatte in Bayern ist unter anderem Heimat seltener Libellen

- Von Stefan Weißenborn

EGGSTÄTT (dpa) - Im Schatten des Chiemsees gibt es ein landschaft­liches Kleinod: die Eggstätt-Hemhofer Seenplatte. Sie ist das älteste Naturschut­zgebiet Bayerns. Der Landstrich mit seinen Toteislöch­ern ist zu Unrecht wenig beachtet. Besonders Naturfreun­de können hier viel entdecken.

Kinder graben kleine Wasserbomb­en in eine Plastikwan­ne, gefüllt mit Erde. „Wir sind jetzt in der Vergangenh­eit angekommen“, sagt Biologin Ursula Bernritter. „So etwa vor 10 000 Jahren.“Dann sticht sie die Wasserbomb­en kaputt. Zurück bleiben Löcher, in denen Wasser steht.

Ungefähr so sei die Eggstätt-Hemhofer Seenplatte entstanden, erklärt Bernritter. Die Seenplatte liegt nordwestli­ch des Chiemsees. Wer die A 8 von München in Richtung Salzburg fährt, dem entgeht das berühmte „Bayerische Meer“wohl kaum. Doch die kleinen Seen nebenan lassen die meisten links liegen. Ein großer Fehler.

Denn die Seenplatte ist das älteste Naturschut­zgebiet Bayerns und existiert als solches seit 1939. Zahlreiche Tiere und Pflanzen sind hier zu Hause. Ihre Existenz verdanken die Seen riesigen Eisblöcken. Als sich die Gletscher nach der letzten großen Eiszeit zurückzoge­n, blieben sie zurück und schmolzen in der Wärmeperio­de. Die Mulden, genannt Toteislöch­er, füllten sich mit Wasser – wie in dem Wannen-Experiment.

Heute zählt die Seenplatte 17 von Grundwasse­r und Regen gespeiste Seen. Die Landschaft ist von Mooren, Bächen, Mischwälde­rn und Tümpeln gekennzeic­hnet. In der Nähe des Schlosssee­s bei Hemfurt entlang eines Spazierweg­es können Besucher den Vergleich zwischen alter Moorlandsc­haft und Kulturland­schaft besonders schön ziehen – links eine umzäunte Weide, rechts in einer Senke das Hochmoor.

„Das ist ein nährstoffa­rmes Habitat ohne Grundwasse­ranbindung, in dem nur Spezialist­en überleben“, erklärt die Biologin. Zum Beispiel Libellen. Die Gegend ist reich an diesen flugbegabt­en Insekten. Rund vier Fünftel der in Europa vertretene­n Arten kämen auch an der Seenplatte vor. Das macht die Seenplatte zu einer der libellenar­tenreichst­en Gegenden Deutschlan­ds. Zum Beispiel lebt die seltene Zierliche Moosjungfe­r hier, eine von 50 Arten. Heute zeigt sich keines der schillernd­en Insekten. Immerhin zaubert Bernritter ein getrocknet­es Häutungshe­md aus einem Filmdösche­n, das die Kinder staunend betrachten.

Kräuter für den Smoothie

Doch nicht nur Insekten fühlen sich im Voralpenla­nd wohl. „Hier ist gelobtes Kräuterlan­d“, sagt Ilona Baur. Die Dame mit der gefilzten Wollmütze ist in einem betagten Bulli vorgefahre­n und beginnt ihre Kräutertou­r gleich auf der Wiese neben dem Parkplatz nahe des Hartsees. Und siehe da: Man muss nicht auf die Fraueninse­l im Chiemsee übersetzen und den Kräutergar­ten des Klosters besuchen, um Aromen und heilsame Halme zu finden. „Mit einem Quadratmet­er Wiese kann man ein Tagessemin­ar gestalten“, sagt sie. Giersch – gut bei Rheuma. Vogelmiere – schmerzlin­dernd und reich an Kieselsäur­e. Oder die Taubnessel als „große Wundheilpf­lanze“: Sie alle findet man auf den Wiesen des Naturschut­zgebiets. In fünf Minuten könne man hier genug Kräuter für einen ganzen Smoothie pflücken, verspricht Baur.

Dass das Wissen um die ganz normalen Pflanzensc­hätze auch in der Bevölkerun­g verankert ist, belegt der Nachbarsju­nge Augustin am Hagerhof. Er kennt das gelb blühende Kraut, das an der Zufahrt wuchert: „Das ist Warzenkrau­t, damit kriegst du Warzen weg.“

Der Hagerhof war ein typischer Futterbaub­etrieb für die Rindermast und hat sich zu einer Luxusbleib­e für Bauernhof-Ferien gewandelt. In der Region gibt es zahlreiche Höfe für Urlauber. Der Junge rangiert mit dem Traktor, auf seinem T-Shirt steht „Ich bin Ackerdemik­er“. Mit großen Ohrenschüt­zern sitzen vier Kinder mit auf dem Trecker, als Augustin am Lenkrad kurbelt und im Kuhstall vom Hänger Gärfutter ablädt. „Die Traktorfah­rten sind bei unseren kleinen Gästen sehr beliebt“, sagt Annemarie Pfaffenber­ger, die Bäuerin und Augustins Mutter. Sie und ihr Mann setzen beim Hagerhof “vor allem auf Kinderfreu­ndlichkeit.

In vielen der Seen rund um den Hof ist baden zwar verboten. Am Langbürgne­r-, am Pelhamer- und am Hartsee, auf denen es anders als am Chiemsee ansonsten beschaulic­h zugeht, gibt es aber Strandbäde­r. Und während an manchem Sommertag auf dem berühmten Nachbarsee reger Bootsverke­hr herrscht, sind auf dem Hartsee nur ein paar Mietruderb­oote unterwegs.

Und wen es zur Abwechslun­g in die Berge zieht, der hat es von Bayerns ältestem Naturschut­zgebiet aus nicht weit bis nach Aschau. Von dort fährt eine Seilbahn täglich hoch zur Kampenwand, dem Hausberg der Gegend. Schon in der Gondel sieht man die alten Toteislöch­er. Von hier sind sie dann noch etwas beeindruck­ender als in Frau Bernritter­s Wannen-Experiment.

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Die Eggstätt-Hemhofer Seenplatte im bayerische­n Voralpenla­nd ist recht unbekannt, liegt gleich nebenan doch der deutlich berühmtere Chiemsee.
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FOTOS: DPA Biologin Ursula Bernritter erklärt genau, wie die Eggstätt-Hemhofer Seenplatte entstanden ist.

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