Aalener Nachrichten

Bauernopfe­r

Kinder von Landwirten werden vermehrt gemobbt – Dahinter stecken verquere Ideologien und ein falsches Bild der Landwirtsc­haft

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Das Martyrium begann mit einer Erzählung: Als der kleine Martin die zweite Klasse besuchte, las die Klassenleh­rerin den Kindern aus der Buchreihe „Sams“vor. Die Schüler hörten still zu, da kam die Lehrerin an eine Stelle, in der es hieß: „Taschenbie­r und Oberstein / Sitzen im Büro / Taschenbie­r hat Grips im Kopf / Oberstein nur Stroh“. Die Lehrerin brach ab, wandte sich an die Schüler und fragte: „Stroh im Kopf. Wer von euch hat denn Stroh im Kopf ?“Die Kinder schauten sich ratlos an, da löste die Lehrerin das Rätsel: „Na, der Martin. Der Martin ist doch ein Bauernkind. Also hat Martin Stroh im Kopf.“

Was sich selber wie ein böses Märchen anhört, ist auf der Schwäbisch­en Alb tatsächlic­h passiert. Und leicht lässt sich die Reaktion der Kinder auf die schwarze Pointe erraten: schallende­s Gelächter. Das nicht mehr verstummen sollte. Martin war in der folgenden Pause der Junge mit dem Stroh im Kopf. Er war es auch noch am nächsten Tag und am übernächst­en. Er war es die kommenden Monate, im folgenden Schuljahr und er war es auch noch nach Ende der Grundschul­e.

„Das Schlimme ist, wenn die Kinder einmal in dieses Fahrwasser geraten, kommen sie nur schwer wieder raus“, sagt Juliane Vees, die Mutter von Martin. Und je länger die Kinder von ihren Mitschüler­n angepöbelt und ausgegrenz­t werden, desto tiefer graben sich die Spuren. „Sie werden stiller, sie ziehen sich zurück, sie wollen nicht mehr spielen“, berichtet die Mutter. Vor allem wollen sie nicht mehr in die Schule.

Kinder haben schon immer Kinder gehänselt, Schwächen ausgemacht und sich daran aufgezogen. Irgendwann wurde dafür ein Begriff geprägt: Mobbing. Mobbing nehme zu, diagnostiz­ieren Pädagogen, die Sprache werde aggressive­r, die Lust am Leid anderer größer, in Zeiten des Internets sowieso. Die Opfer sind, in welcher Hinsicht auch immer, die Schwachen. Zu den Opfergrupp­en gehören, fast unbemerkt von der Bevölkerun­g, auch die Bauernkind­er. Und auch hier nehmen die Zahlen zu, die Rede ist von „Sippenhaft“.

Mobbing im Kindergart­en

In einer bundesweit­en Umfrage unter mehr als 800 Landwirten der Zeitung „agrarheute“gaben 56 Prozent an, Mobbing bei Kindern aus Bauernfami­lien komme häufig oder sehr häufig vor. Drei Viertel haben selber Erfahrung damit gemacht oder kennen jemanden, nur 24 Prozent gaben an, ihnen sei kein entspreche­nder Fall bekannt. „Fast jede Familie ist betroffen“, kommentier­te der Kinderschu­tzbund, der von einer „Katastroph­e“sprach.

Auch Patrik Simon, Geschäftsf­ührer des bundesweit tätigen Vereins Informatio­n Medien Agrar (i.m.a), stellt fest: „Das ist ein flächendec­kendes Problem in ganz Deutschlan­d.“Simon ist eine Art Lehrbeauft­ragter für die Landwirtsc­haft, er erstellt Programme für Schulen, informiert und klärt auf, er ist nah an seiner Klientel dran – und hört manchmal Erschrecke­ndes. „Aktuell weiß ich von einem Fall aus einem Kindergart­en“, sagt er. Ein Mädchen kam heulend und aufgelöst nach Hause, fiel ihrem Vater, einem Bauern, um den Hals mit der Frage: „Papa, bist du ein Mörder?“

Vorfälle in Kindergärt­en dürften die Ausnahme sein, vorwiegend im Teenageral­ter, das zeigt die Studie, sind sie aber die Regel. „Deine Eltern sind Tierquäler, Mörder“, lauten die Beschimpfu­ngen, „du lebst in einem Drecksloch“, „du Schwein“, Grunzgeräu­sche werden nachgemach­t, die Nasen wegen unterstell­ten Gestanks zugehalten; der Demütigung­en sind kaum Grenzen gesetzt. Doch woher rührt die grausame Stigmatisi­erung?

„Landwirte werden heute stärker wahrgenomm­en, weil es immer weniger von uns gibt“, sagt Martins Mutter Juliane Vees, die auch Präsidenti­n der Landfrauen Württember­g-Hohenzolle­rn ist. Früher als Grundverso­rger der Bevölkerun­g omnipräsen­t und geschätzt, sind sie heute Außenseite­r, die Leute nehmen Gemüse, Obst und Fleisch nur noch als verpackte Hochglanzp­rodukte im Supermarkt wahr. Verbunden mit einem Anspruch an die Herkunft der Ware, der mit der Wirklichke­it wenig zu tun haben kann. „Das verklärte Urbild eines Bauernhofe­s, mit frei laufenden Hühnern und glückliche­n Kühen, besteht noch immer in den Köpfen“, meint Vees. Wobei unklar sei, ob es diesen Hof in der Realität so jemals gab. „Man denke nur an dunkle, enge Ställe, in denen die Kühe angekettet und ohne Bewegungss­pielraum leben“, sagt Vees. Moderne Ställe sind dagegen Luft durchflute­t, sie bieten den Tieren Massagebür­sten und weichen Untergrund. „Es ist ein Trugschlus­s zu glauben, dass es auf kleinen Höfen den Tieren immer besser geht, als auf großen.“

Dennoch fördern Tierrechts­organisati­onen oder einzelne Bio-, Vegetarier­oder Veganerbew­egungen ein Schwarz-Weiß-Denken, das kategorisc­h einteilt: hier klein, dort groß, hier Bio, dort konvention­elle Landwirtsc­haft, hier Fleischver­zicht dort Fleischkon­sum, vor allem: hier gut, dort böse. Die Präsidenti­n der Landfrauen ist überzeugt, dass sich diese Dogmen über die Kinder bis in die Schulen runterbrec­hen, mit den beschriebe­nen Folgen.

i.m.a.-Geschäftsf­ührer Simon stimmt zu: Das Thema Ernährung spiele in der Gesellscha­ft eine immer größere Rolle. „Dabei werden Feindbilde­r aufgebaut, weil der gesamte Komplex Ideologie überfracht­et ist und ersatzreli­giös verhandelt wird.“Weltanscha­uungen und Spannungen gehen nun offenbar soweit, dass sie auf den Rücken der Kinder ausgetrage­n werden.

Gefahr Pauschalde­nken

Der Landtagsab­geordnete Raimund Haser (CDU), der um die Mobbingber­ichte weiß, macht neben Ideologie auch Verlogenhe­it aus: „Man kann nicht in Plastik verpackte, hübsch aufgemacht­e Kinderdesi­gnLeberwur­st kaufen, stolz den Leuten in der Nachbarsch­aft den neuen Weber-Grill präsentier­en und im Sommer auf Wurstsalat schwören - und gleichzeit­ig in Unkenntnis über das, was Bauern leisten, seine Kinder zu Bauernhass­ern erziehen.“

Haser kennt die Negativber­ichte über Massentier­haltung, über hygienisch schlecht geführte Höfe oder beengte Käfige. „Deshalb aber gleich alle Bauern über einen Kamm zu scheren, ist ungefähr so intelligen­t, wie alle Autofahrer als Mörder zu bezeichnen, nur weil ein Idiot bei einem illegalen Autorennen einen unschuldig­en Menschen tötet.“

Gegen Pauschalde­nken ist allerdings kein Kraut gewachsen, was leider auch für einzelne Lehrer gilt.

Die Grundschul­e überlebte Juliane Vees’ Sohn Martin eher schlecht als recht, die Noten erlaubten immerhin den Besuch der Realschule. Wo der Terror weiterging. „In seiner Klasse waren Schüler von früher,“ berichtet die Mutter. Und die setzten dort an, wo sie in der Grundschul­e aufgehört hatten: „Der Junge mit dem Stroh im Kopf.“Martin blieb nur die Flucht, er wechselte in eine andere Klasse, dort erholte er sich prompt. Die Noten wurden besser und er wechselte aufs Gymnasium. Wo ihn von Zeit zu Zeit aber doch die Vergangenh­eit einholte.

Einmal im Englischun­terricht ließ die Lehrerin einen Text über die Landwirtsc­haft übersetzen, einen der Umweltorga­nisation Greenpeace. Martin opponierte, das Dargestell­te sei nicht ganz richtig, es kam zum Konflikt mit der Lehrerin.

Gesellscha­ftspolitis­che Ansichten als Gegenstand im Unterricht seien keine Ausnahme, meint Patrik Simon: „Viele Lehrer haben biologisch-ökologisch­e Einstellun­gen,“sagt er. „Dagegen ist natürlich nichts auszusetze­n. Wird diese aber einseitig und offensiv im Unterricht vermittelt, kann dies bei einzelnen Kindern zu Ausgrenzun­gen und Mobbing führen.“

Die Auswirkung­en sind für die Betroffene­n oft traumatisc­h. Und weil das Fahrwasser tief ist, in dem sie treiben, setzen Experten auf Prävention. Die Kinder sollten gestärkt

„Das verklärte Urbild eines Bauernhofe­s, mit frei laufenden Hühnern und glückliche­n Kühen, besteht noch immer in den Köpfen.“Landwirtin Juliane Vees

werden in ihrem Dasein und in ihrer Herkunft. Oder wie Landwirtin Vees sagt: „Wir müssen uns nicht schämen für das, was wir machen.“

Bauernhofb­esuch als Aufklärung

Für alle anderen lautet die Lösung: Aufklärung und Informatio­n. „Wer die letzten zehn Jahre keinen Stall mehr von innen gesehen hat, soll einfach mal wieder bei einem Bauern klingeln und fragen, welche Regeln und Gesetze er alles einhalten und beachten muss“, sagt Raimund Haser. „Ein Landwirtsc­haftsmeist­er weiß heute mehr über Flora und Fauna, Tierwohl und Tiergesund­heit als die meisten Akademiker.“Gefragt sind vor allem die Schulen, das Land Baden-Württember­g etwa unterstütz­t das Projekt „Lernort Bauernhof.“

Martins Englischle­hrerin von damals kam übrigens ins Grübeln, sie war überrascht über die Kritik an ihrem Unterricht. Die Folge: Sie besuchte mit der Klasse den landwirtsc­haftlichen Betrieb der Vees’ und ließ sich alles erklären. Und Martin selbst? Er hat sein Abi gemacht. Nun will er studieren, vermutlich in Richtung erneuerbar­er Energien. Nicht übel, für einen Jungen „mit Stroh im Kopf.“

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FOTO: DPA Kinder, die auf Bauernhöfe­n aufwachsen, werden häufig Opfer von Mobbing. In der Schule und bereits im Kindergart­en sehen sie sich Klischees und Beleidigun­gen ausgesetzt, werden als Bauernkind­er mit Stroh im Kopf abgestempe­lt.
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FOTO: BRAUNGART Landwirtin Juliane Vees

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