Bauernopfer
Kinder von Landwirten werden vermehrt gemobbt – Dahinter stecken verquere Ideologien und ein falsches Bild der Landwirtschaft
RAVENSBURG - Das Martyrium begann mit einer Erzählung: Als der kleine Martin die zweite Klasse besuchte, las die Klassenlehrerin den Kindern aus der Buchreihe „Sams“vor. Die Schüler hörten still zu, da kam die Lehrerin an eine Stelle, in der es hieß: „Taschenbier und Oberstein / Sitzen im Büro / Taschenbier hat Grips im Kopf / Oberstein nur Stroh“. Die Lehrerin brach ab, wandte sich an die Schüler und fragte: „Stroh im Kopf. Wer von euch hat denn Stroh im Kopf ?“Die Kinder schauten sich ratlos an, da löste die Lehrerin das Rätsel: „Na, der Martin. Der Martin ist doch ein Bauernkind. Also hat Martin Stroh im Kopf.“
Was sich selber wie ein böses Märchen anhört, ist auf der Schwäbischen Alb tatsächlich passiert. Und leicht lässt sich die Reaktion der Kinder auf die schwarze Pointe erraten: schallendes Gelächter. Das nicht mehr verstummen sollte. Martin war in der folgenden Pause der Junge mit dem Stroh im Kopf. Er war es auch noch am nächsten Tag und am übernächsten. Er war es die kommenden Monate, im folgenden Schuljahr und er war es auch noch nach Ende der Grundschule.
„Das Schlimme ist, wenn die Kinder einmal in dieses Fahrwasser geraten, kommen sie nur schwer wieder raus“, sagt Juliane Vees, die Mutter von Martin. Und je länger die Kinder von ihren Mitschülern angepöbelt und ausgegrenzt werden, desto tiefer graben sich die Spuren. „Sie werden stiller, sie ziehen sich zurück, sie wollen nicht mehr spielen“, berichtet die Mutter. Vor allem wollen sie nicht mehr in die Schule.
Kinder haben schon immer Kinder gehänselt, Schwächen ausgemacht und sich daran aufgezogen. Irgendwann wurde dafür ein Begriff geprägt: Mobbing. Mobbing nehme zu, diagnostizieren Pädagogen, die Sprache werde aggressiver, die Lust am Leid anderer größer, in Zeiten des Internets sowieso. Die Opfer sind, in welcher Hinsicht auch immer, die Schwachen. Zu den Opfergruppen gehören, fast unbemerkt von der Bevölkerung, auch die Bauernkinder. Und auch hier nehmen die Zahlen zu, die Rede ist von „Sippenhaft“.
Mobbing im Kindergarten
In einer bundesweiten Umfrage unter mehr als 800 Landwirten der Zeitung „agrarheute“gaben 56 Prozent an, Mobbing bei Kindern aus Bauernfamilien komme häufig oder sehr häufig vor. Drei Viertel haben selber Erfahrung damit gemacht oder kennen jemanden, nur 24 Prozent gaben an, ihnen sei kein entsprechender Fall bekannt. „Fast jede Familie ist betroffen“, kommentierte der Kinderschutzbund, der von einer „Katastrophe“sprach.
Auch Patrik Simon, Geschäftsführer des bundesweit tätigen Vereins Information Medien Agrar (i.m.a), stellt fest: „Das ist ein flächendeckendes Problem in ganz Deutschland.“Simon ist eine Art Lehrbeauftragter für die Landwirtschaft, er erstellt Programme für Schulen, informiert und klärt auf, er ist nah an seiner Klientel dran – und hört manchmal Erschreckendes. „Aktuell weiß ich von einem Fall aus einem Kindergarten“, sagt er. Ein Mädchen kam heulend und aufgelöst nach Hause, fiel ihrem Vater, einem Bauern, um den Hals mit der Frage: „Papa, bist du ein Mörder?“
Vorfälle in Kindergärten dürften die Ausnahme sein, vorwiegend im Teenageralter, das zeigt die Studie, sind sie aber die Regel. „Deine Eltern sind Tierquäler, Mörder“, lauten die Beschimpfungen, „du lebst in einem Drecksloch“, „du Schwein“, Grunzgeräusche werden nachgemacht, die Nasen wegen unterstellten Gestanks zugehalten; der Demütigungen sind kaum Grenzen gesetzt. Doch woher rührt die grausame Stigmatisierung?
„Landwirte werden heute stärker wahrgenommen, weil es immer weniger von uns gibt“, sagt Martins Mutter Juliane Vees, die auch Präsidentin der Landfrauen Württemberg-Hohenzollern ist. Früher als Grundversorger der Bevölkerung omnipräsent und geschätzt, sind sie heute Außenseiter, die Leute nehmen Gemüse, Obst und Fleisch nur noch als verpackte Hochglanzprodukte im Supermarkt wahr. Verbunden mit einem Anspruch an die Herkunft der Ware, der mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben kann. „Das verklärte Urbild eines Bauernhofes, mit frei laufenden Hühnern und glücklichen Kühen, besteht noch immer in den Köpfen“, meint Vees. Wobei unklar sei, ob es diesen Hof in der Realität so jemals gab. „Man denke nur an dunkle, enge Ställe, in denen die Kühe angekettet und ohne Bewegungsspielraum leben“, sagt Vees. Moderne Ställe sind dagegen Luft durchflutet, sie bieten den Tieren Massagebürsten und weichen Untergrund. „Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass es auf kleinen Höfen den Tieren immer besser geht, als auf großen.“
Dennoch fördern Tierrechtsorganisationen oder einzelne Bio-, Vegetarieroder Veganerbewegungen ein Schwarz-Weiß-Denken, das kategorisch einteilt: hier klein, dort groß, hier Bio, dort konventionelle Landwirtschaft, hier Fleischverzicht dort Fleischkonsum, vor allem: hier gut, dort böse. Die Präsidentin der Landfrauen ist überzeugt, dass sich diese Dogmen über die Kinder bis in die Schulen runterbrechen, mit den beschriebenen Folgen.
i.m.a.-Geschäftsführer Simon stimmt zu: Das Thema Ernährung spiele in der Gesellschaft eine immer größere Rolle. „Dabei werden Feindbilder aufgebaut, weil der gesamte Komplex Ideologie überfrachtet ist und ersatzreligiös verhandelt wird.“Weltanschauungen und Spannungen gehen nun offenbar soweit, dass sie auf den Rücken der Kinder ausgetragen werden.
Gefahr Pauschaldenken
Der Landtagsabgeordnete Raimund Haser (CDU), der um die Mobbingberichte weiß, macht neben Ideologie auch Verlogenheit aus: „Man kann nicht in Plastik verpackte, hübsch aufgemachte KinderdesignLeberwurst kaufen, stolz den Leuten in der Nachbarschaft den neuen Weber-Grill präsentieren und im Sommer auf Wurstsalat schwören - und gleichzeitig in Unkenntnis über das, was Bauern leisten, seine Kinder zu Bauernhassern erziehen.“
Haser kennt die Negativberichte über Massentierhaltung, über hygienisch schlecht geführte Höfe oder beengte Käfige. „Deshalb aber gleich alle Bauern über einen Kamm zu scheren, ist ungefähr so intelligent, wie alle Autofahrer als Mörder zu bezeichnen, nur weil ein Idiot bei einem illegalen Autorennen einen unschuldigen Menschen tötet.“
Gegen Pauschaldenken ist allerdings kein Kraut gewachsen, was leider auch für einzelne Lehrer gilt.
Die Grundschule überlebte Juliane Vees’ Sohn Martin eher schlecht als recht, die Noten erlaubten immerhin den Besuch der Realschule. Wo der Terror weiterging. „In seiner Klasse waren Schüler von früher,“ berichtet die Mutter. Und die setzten dort an, wo sie in der Grundschule aufgehört hatten: „Der Junge mit dem Stroh im Kopf.“Martin blieb nur die Flucht, er wechselte in eine andere Klasse, dort erholte er sich prompt. Die Noten wurden besser und er wechselte aufs Gymnasium. Wo ihn von Zeit zu Zeit aber doch die Vergangenheit einholte.
Einmal im Englischunterricht ließ die Lehrerin einen Text über die Landwirtschaft übersetzen, einen der Umweltorganisation Greenpeace. Martin opponierte, das Dargestellte sei nicht ganz richtig, es kam zum Konflikt mit der Lehrerin.
Gesellschaftspolitische Ansichten als Gegenstand im Unterricht seien keine Ausnahme, meint Patrik Simon: „Viele Lehrer haben biologisch-ökologische Einstellungen,“sagt er. „Dagegen ist natürlich nichts auszusetzen. Wird diese aber einseitig und offensiv im Unterricht vermittelt, kann dies bei einzelnen Kindern zu Ausgrenzungen und Mobbing führen.“
Die Auswirkungen sind für die Betroffenen oft traumatisch. Und weil das Fahrwasser tief ist, in dem sie treiben, setzen Experten auf Prävention. Die Kinder sollten gestärkt
„Das verklärte Urbild eines Bauernhofes, mit frei laufenden Hühnern und glücklichen Kühen, besteht noch immer in den Köpfen.“Landwirtin Juliane Vees
werden in ihrem Dasein und in ihrer Herkunft. Oder wie Landwirtin Vees sagt: „Wir müssen uns nicht schämen für das, was wir machen.“
Bauernhofbesuch als Aufklärung
Für alle anderen lautet die Lösung: Aufklärung und Information. „Wer die letzten zehn Jahre keinen Stall mehr von innen gesehen hat, soll einfach mal wieder bei einem Bauern klingeln und fragen, welche Regeln und Gesetze er alles einhalten und beachten muss“, sagt Raimund Haser. „Ein Landwirtschaftsmeister weiß heute mehr über Flora und Fauna, Tierwohl und Tiergesundheit als die meisten Akademiker.“Gefragt sind vor allem die Schulen, das Land Baden-Württemberg etwa unterstützt das Projekt „Lernort Bauernhof.“
Martins Englischlehrerin von damals kam übrigens ins Grübeln, sie war überrascht über die Kritik an ihrem Unterricht. Die Folge: Sie besuchte mit der Klasse den landwirtschaftlichen Betrieb der Vees’ und ließ sich alles erklären. Und Martin selbst? Er hat sein Abi gemacht. Nun will er studieren, vermutlich in Richtung erneuerbarer Energien. Nicht übel, für einen Jungen „mit Stroh im Kopf.“