„Die Schere geht seit zehn Jahren nicht mehr auseinander“
Ökonom Holger Stichnoth vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zur Gerechtigkeit in Deutschland
RAVENSBURG - Holger Stichnoth, kommissarischer Leiter der Forschungsgruppe Internationale Verteilungsanalysen beim ZEW in Mannheim, fordert mehr Chancengerechtigkeit. Bei der Umverteilung von Einkommen sei Deutschland zwar im europäischen Vergleich im Mittelfeld, aber der Bildungserfolg hänge zu stark vom Elternhaus ab, sagte Stichnoth im Gespräch mit Claudia Kling. Der Volkswirtschaftler befürwortet längerfristig auch die Abschaffung des Ehegattensplitting. Dies sei derzeit aber weder verfassungsrechtlich noch politisch durchsetzbar.
Herr Stichnoth, wenn man mit Freunden, Kollegen oder in der Familie streiten will, muss man eigentlich nur das Thema soziale Gerechtigkeit ansprechen. Wieso wird in Deutschland so emotional darüber diskutiert?
Das liegt daran, dass jeder etwas anderes darunter versteht. Die einen reden über Einkommensungleichheit, die anderen über Vermögensungleichheit und definieren Gerechtigkeit jeweils vom Ergebnis her. Wieder andere sehen in der Chancengleichheit das entscheidende Gerechtigkeitskriterium. Zudem wird die Debatte über Gerechtigkeit immer von subjektiven Faktoren beeinflusst sein. Und über langfristige Entwicklungen, beispielsweise beim Vermögen in Deutschland, wissen wir einfach zu wenig Bescheid, weil die Daten das nicht hergeben.
Die Forscher kommen – je nach Institut und Auftraggeber – oft zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wie lässt sich das erklären?
Der Teufel steckt da oft im Detail. Man muss genau hinsehen, was gemessen wird, mit welchen Daten und für welchen Zeitraum. Geht es um die Lohnverteilung oder die Verteilung der Einkommen, um das Einkommen vor oder nach Steuern? Diese Feinheiten gehen in der Debatte oft unter. Und es gibt ein grundsätzliches Problem mit den Daten: Nicht alles kann erfasst werden. Seit die Vermögensteuer in Deutschland nicht mehr erhoben wird, haben wir einfach sehr wenige Informationen darüber. Aber auch Sachleistungen, die eine Umverteilung bewirken, beispielsweise Bildungsinvestitionen, lassen sich nur schwer erfassen. Deshalb muss jeder Bürger für sich selbst entscheiden, wie er die von den Forschern erhobenen Behauptungen bewertet und welcher Partei er am Wahltag seine Stimme gibt. Die Wissenschaft liefert keine endgültigen Antworten.
Aber es müsste doch möglich sein, belastbare Informationen zu bekommen?
Nehmen Sie die oft gehörte Aussage, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Auch da hängt der Wahrheitsgehalt wesentlich davon ab, welche Perioden sie vergleichen. Die Einkommensungleichheit hat in Deutschland seit 2005 nicht weiter zugenommen. Das ist zwar in der Wissenschaft relativ unbestritten, wird aber von bestimmten Parteien anders wiedergegeben. Das heißt, die Debatte über Gleichheit und Ungleichheit bietet Raum für Fehlinterpretationen, die zum Teil politisch auch so gewollt sind.
Laut einer Allensbach-Studie sagen 64 Prozent der Menschen in Deutschland, es gehe ihnen gut, gleichzeitig sind rund 60 Prozent der Meinung, in einer ungerechten Gesellschaft zu leben. Können Sie als Wissenschaftler dieses Paradox erklären?
Ich vermute, dass dies zum Teil Ausdruck der sogenannten German Angst ist, wie sie sich früher beim Thema Waldsterben gezeigt hat. Aber das ist eine rein subjektive Einschätzung, die ich wissenschaftlich nicht belegen kann. Dieses Paradox hat aber durchaus eine politische Relevanz und sollte weiter untersucht werden.
Wie sehen Sie es: Ist Deutschland im europäischen Vergleich ein gerechtes oder ungerechtes Land?
Die Ungleichheit ist in Deutschland durchschnittlich ausgeprägt. Die Nettolöhne und -gehälter sind zwar überdurchschnittlich ungleich verteilt, aber nach Steuern und Transferleistungen ist die Verteilung der Einkommen im Mittelfeld. Das bedeutet, wir haben hierzulande eine durchaus starke Umverteilung. Bei der Einkommensteuer gilt das besonders. Oft wird dann entgegnet, dass ärmere Bürger stärker von der Mehrwertsteuer betroffen sind als die Reichen. Aber auch wenn dieses Argument berücksichtigt wird, kommt unter dem Strich heraus, dass die Reichen überproportional zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen.
Also ist es um die Gerechtigkeit in Deutschland gut bestellt?
Nein, es müsste mehr für die Chancengerechtigkeit getan werden. Wie die Pisastudie gezeigt hat, hängt der Bildungserfolg in Deutschland stark vom Elternhaus ab. Das ist ein großes Problem. Zudem sind Erbschaften und Kapital in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden. Die einen können sich aufgrund ihres Elternhauses oder von Erbschaften bereits in jungen Jahren tolle Wohnungen leisten, die anderen, die nur ihr Einkommen haben, schaffen das möglicherweise nie. Das birgt natürlich ein Risiko für die Gerechtigkeit im Land, wenn der Staat nicht ordnend eingreift.
Ist es aus Ihrer Sicht nachvollziehbar, dass der Staat den Bürger bei Einkommen- und Sozialabgaben im OECD-Vergleich eher stark belastet, Vermögen hingegen schont?
Sie müssen schon beachten: Vermögen wurden irgendwann bereits als Einkommen versteuert, deshalb werden sie nicht komplett geschont. Aber man könnte die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge wieder stärker in die Einkommensteuer integrieren. Als der Pauschalsatz vor 15 Jahren beschlossen wurde, gab es noch so viele Steuerschlupflöcher, dass der Satz „Lieber 25 Prozent von X als 42 Prozent von nix“durchaus gerechtfertigt war. Inzwischen ist die Steuerflucht erschwert worden, daraus ergeben sich neue Möglichkeiten. Aus meiner Sicht wäre es zudem sinnvoll, extrem hohe Erbschaften stärker zu besteuern, um dadurch mehr Chancengerechtigkeit zu erzielen.
Wird die Schere in Deutschland weiter auseinandergehen oder werden sich zumindest die Einkommen wieder annähern?
Die Schere geht seit zehn Jahren nicht mehr weiter auseinander. Und es ist durchaus möglich, dass sich die Situation der Erwerbstätigen, auch durch den absehbaren Facharbeitermangel, weiter verbessern wird. Gewinnen dürften vor allem die hochanalytischen, international angesiedelten Jobs, die man nicht durch Maschinen ersetzen kann. Auch die persönlichen Dienstleistungen, etwa in Erziehung und Pflege, sind recht sicher. Gefährdet sind diejenigen, deren Arbeitsplätze durch die zunehmende Digitalisierung verdrängt werden könnten. Das heißt, die Polarisierung am Arbeitsmarkt wird zunehmen. Die ganz große Unbekannte ist, wie die Integration der Flüchtlinge gelingen wird, weil die Mehrheit von ihnen absehbar im Niedriglohnsektor beschäftigt sein wird.
Immer wieder wird behauptet, die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse nehme zu. Stimmt das?
Das ist ein Teil der verzerrten Wahrnehmung. Es wird oft so dargestellt, dass das deutsche Jobwunder durch eine wachsende Zahl von Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor erkauft wurde. In Wirklichkeit ist aber auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigen auf einem Höchststand. Das kommt in der Debatte zu kurz und wird manchmal auch bewusst unterschlagen, um politische Interessen verfolgen zu können.
Wie bewerten Sie das Ehegattensplitting, das von der OECD kritisiert wird, weil deshalb zu wenige Frauen erwerbstätig seien.
Ich teile die Kritik der OECD, dass das Ehegattensplitting negative Erwerbsanreize für Frauen schafft. Deshalb würde ich es längerfristig abschaffen. Es gibt da aber verfassungsrechtliche Probleme – den Schutz von Ehe und Familie – und abgesehen davon ist dieses Vorhaben politisch nicht durchsetzbar. Das Ehegattensplitting bringt den Familien gut 20 Milliarden Euro im Jahr. Nimmt man ihnen dies weg, wäre das natürlich eine große Belastung für die Haushalte. Deshalb müsste es vorübergehend eine Art Bestandsschutz geben, weil die Menschen ihre Lebensentwürfe an der jetzigen gesetzlichen Lage ausgerichtet haben.
Den Alleinverdienern ohne Kinder wird oft vorgeworfen, zu wenig für die Solidargemeinschaft zu tun. Ist dieser Vorwurf gerechtfertigt?
Gutverdiener zahlen als Single mehr Einkommensteuer, weil sie nicht vom Splitting profitieren. In der Sozialversicherung ist der Beitragssatz für alle gleich. Das heißt, Eltern zahlen über das Umlageverfahren beispielsweise bei der Rente für Kinderlose mit. Kinderlose finanzieren andererseits Schulen, von denen sie nicht unmittelbar profitieren. Diese Debatte zeigt, wie schwierig es ist, ein Gesamtbild zu entwerfen, das Aufschluss darüber gibt, was gerecht ist.
Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen ein Weg zu mehr Gerechtigkeit – auch im Hinblick auf steigende Arbeitslosenzahlen durch weitere technische Fortschritte?
Ich glaube nicht, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen notwendig ist, um auf den zunehmenden Einsatz von Robotern in der Arbeitswelt zu reagieren. Es wurde schon häufiger das Ende der Arbeit ausgerufen – und es ist nicht passiert. Die Vergangenheit hat seit der Postkutsche gezeigt, dass trotz des Fortschritts die Zahl der Beschäftigten eher gestiegen ist. Aber ein Grundeinkommen als Idee zur Vereinfachung von Sozialleistungen ist auf jeden Fall interessant. Es darf halt nicht zu hoch sein, um keine falschen Anreize zu setzen. Manche Jobs sind wichtig für die Gesellschaft, würden aber sicher nicht auf rein freiwilliger Basis gemacht: Kaum jemand möchte ehrenamtlich im Straßenbau mithelfen oder nachts Brötchen backen.