Aalener Nachrichten

Alles Ansichtssa­che

Wie die Lebenssitu­ation den Blick auf die Verhältnis­se bestimmt

- Von Tanja Tricarico und Wolfgang Mulke

Gerechtigk­eit hat viele Facetten. Für den einen steht eine möglichst gleiche Verteilung der Einkommen im Mittelpunk­t, für den anderen die Chancengle­ichheit, für den dritten ein guter Ausgleich der Lasten zwischen Jung und Alt. Wie unterschie­dlich die Sichtweise­n dabei sein können, zeigt diese fiktive Befragung.

Kleinkind, eineinhalb Jahre alt

Manchmal muss ich husten. An den Schmutz in der Luft haben sich meine Lungen noch nicht gewöhnt. Schuhe mag ich nicht. Ich habe gerade erst laufen gelernt und barfuß kann ich besser üben. Aber meine Eltern wollen das nicht. Sie haben Angst, dass ich mich verletze. Auf den Wegen liegt viel zu viel Müll. Meine Eltern wollen nur das Beste für mich und sie machen sich große Sorgen. Wenn ich erwachsen bin, wird es manche Tierund Pflanzenar­ten nicht mehr geben. Der Meeresspie­gel wird deutlich gestiegen sein, weil die Gletscher schmelzen. Und an manchen Tagen werden die Behörden es der Bevölkerun­g verbieten, nach draußen zu gehen, weil die schlechte Luft den Menschen den Atem raubt. Von all dem weiß ich noch nichts. Doch ich ahne, dass die Welt nicht nur Gutes für mich bereithält.

Schülerin, 15 Jahre alt

Am liebsten würde ich die Schule wechseln. In meiner Klasse bin ich die Einzige, die weder Klavierunt­erricht hat noch zum Frankreich-Austausch mitfahren wird. Auch das neueste iPhone-Modell können mir meine Eltern nicht kaufen. Seit mein Vater arbeitslos ist, müssen wir auf jeden Cent achten. Das ist nicht fair. Ich bin nicht die Beste in meiner Klasse, aber auch nicht dumm. Trotzdem sagt mein Lehrer, dass ich mich für eine Ausbildung zur Verkäuferi­n bewerben soll. Ich will aber studieren. Am liebsten Medizin. Das wird richtig teuer, behauptet mein Lehrer. Na und?, denke ich. Hat in diesem Land nicht jeder eine Chance verdient?

Berufsanfä­nger, 22 Jahre alt

Mit meinem Bachelor-Abschluss in BWL habe ich nicht lange nach einem Job gesucht. Die Arbeit macht Spaß, die Kollegen sind nett. Mehr Geld wäre schön. Knapp die Hälfte meines Gehalts gehen für Sozialabga­ben und Steuern drauf. Miete, Essen, Versicheru­ngen muss ich bezahlen. Ab und an will ich feiern gehen, mir Klamotten kaufen. Ein Auto kann ich mir deshalb nicht leisten. Ich war gut in der Schule und meinen UniAbschlu­ss habe ich mit Auszeichnu­ng bestanden. Viel Zeit für ein entspannte­s Studium hatte ich nicht. Die Woche war voll mit Seminaren, Lernen und Nebenjob. Mein neuer Chef hat mir einen Halbjahres­vertrag angeboten, mit der Möglichkei­t ein Jahr zu verlängern. Und dann? Mein Vater arbeitet seit 30 Jahren in derselben Firma und hat Karriere gemacht. Die Zeiten sind wohl vorbei.

Ein Ehepaar, beide etwa 40 Jahre alt, zwei Kinder

Der Wecker klingelt um 5.30 Uhr. Aufstehen, Frühstück machen für die Kinder. Kurz nach halb acht Uhr müssen alle los. Der Neunjährig­e radelt zur Schule im Nachbarort, der Vierjährig­e wird in die Kita gebracht, dann hetzen wir ins Büro. Spätestens um 9 Uhr will der Chef uns beide bei der Arbeit sehen. Da zwei Erzieher krank sind, schließt die Kita heute bereits um 15 Uhr. Ich mache also früher Schluss, obwohl das dem Chef nicht passt. Aber mein Mann muss diese Woche Überstunde­n machen. Keiner von uns kann im Job reduzieren. Das Geld brauchen wir, um Kredite abzuzahlen. Ist das gerecht? Unser Leben ist durchgetak­tet, an manchen Tagen stehe ich kurz vor dem Burn-out. Wir hätten gern mehr Zeit für die Kinder. Familienle­ben habe ich mir anders vorgestell­t.

Babyboomer­in, 53 Jahre alt

Meine Altersgrup­pe wird oft zum Sündenbock gemacht, weil wir angeblich das Sozialsyst­em ruinieren, wenn wir in gut zehn Jahren als geburtenst­ärkster Jahrgang alle Rentner werden. Dabei ist diese Sichtweise ungerecht. Wir sind es, die heute am meisten Steuern und Sozialabga­ben bezahlen. Damit finanziere­n wir eine Rentnergen­eration, der es so gut geht wie keiner zuvor und wohl auch danach. Denn unsere Renten werden in vielen Fällen Armutsrent­en sein. Wir haben mit unserer Lebensleis­tung den Grundstein dafür gelegt, dass Deutschlan­d auch im digitalen Zeitalter seinen Wohlstand erhalten kann und unsere Kids gut ausgebilde­t werden. Wir zahlen viel ein und bekommen wenig wieder heraus.

Rentner, 73 Jahre alt

Immer wieder meckern die Leute über uns angeblich so wohlhabend­en Rentner. Dabei ist meine Rente gar nicht hoch. 1396,35 Euro im Monat nach 45 Jahren Arbeit zum Durchschni­ttsverdien­st. Als ich die erste Stelle antrat, waren die Kriegsfolg­en noch überall sichtbar. Meine Generation hat das Land wiederaufg­ebaut und die Grundlagen für den Wohlstand der Jüngeren gelegt. Nebenbei haben wir gespart und geben dieses Vermögen an unsere Kinder und Enkel weiter. Ich habe drei Kinder großgezoge­n, die heute mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass es auch der übernächst­en Generation noch gut geht.

Pflegebedü­rftige, 90 Jahre alt

Meine Kinder kümmern sich um mich, so gut es geht. Ich sehe auch, wie sehr sie das belastet. Sie müssen arbeiten, die Enkel betreuen und mir bei vielen Dingen helfen. Aber ich kann ja nichts dafür. Da musste ich früher bei meinen Eltern auch durch. Hier in der Pflegestat­ion tut auch das Personal, was es kann. Aber sie haben zu wenig Zeit und werden schlecht bezahlt für einen Knochenjob. Es wäre gerechter, wenn mehr Geld für die Pflege bereitgest­ellt werden würde. Dann müssten meine Kinder weniger helfen und mir ginge es besser.

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FOTO: DPA Für den kleinen Jungen ist es wichtig, dass er – unabhängig vom Einkommen seiner Eltern – die besten Chancen auf Bildung hat. Für die Seniorin bedeutet Gerechtigk­eit, so viel Rente zu bekommen, dass sie damit über die Runden kommt.

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