Aalener Nachrichten

„Vielleicht könnte es ja sogar gut werden!“

Chris Dercon, der umstritten­e neue Chef der Berliner Volksbühne, gibt sich hoffnungsv­oll

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BERLIN (dpa) - Jetzt geht es los! Der heftig kritisiert­e neue Volksbühne­nIntendant Chris Dercon (59) ist froh, dass seine erste Spielzeit beginnt: „Vielleicht könnte es ja sogar gut werden!“, heißt es im (nur schriftlic­h geführten!) Interview mit Elke Vogel. Der Nachfolger von Frank Castorf fordert „Zeit zur Entfaltung“und prophezeit, dass bei dem zehnstündi­gen Tanzmarath­on auch Nicht-Tänzer Lust bekommen, bei der Eröffnungs­inszenieru­ng mitzumache­n.

Welche Themen behandeln die Choreograf­ien?

Boris Charmatz' Choreograf­ien handeln von Gemeinscha­ft, Teilhabe und Teilnahme. Um es kurz zu sagen: Es geht um Zusammenge­hörigkeit. Der Künstler sagt selbst, dass er Tanz nutzt, um unterschie­dliche Menschen zusammenzu­bringen. Ich hoffe, dass seine Arbeit auch zu einer konstrukti­ven Debatte um die zukünftige Bedeutung der Volksbühne beiträgt: Wer ist „das Volk“, für das sie eine Bühne sein soll? Diese Frage ist auch ein roter Faden, der den anderen Produktion­en auf Tempelhof zu Grunde liegt.

Wie sollen die Berliner und ihre Gäste bei der Saisoneröf­fnung zum Tanzen animiert werden?

„Fous de danse“auf dem Tempelhofe­r Flugvorfel­d wird ein zehnstündi­ges Tanzspekta­kel mit 18 Programmpu­nkten, die am Stück und ohne Pausen aufgeführt werden. Anne Teresa de Keersmaeke­r, Ruth Childs, Mithkal Alzghair, Christophe­r Roman, Boris Charmatz selbst und viele andere treten auf. Es gibt aber auch Choreograf­ien, die zum Mitmachen einladen. Zuletzt habe ich das mit Boris Charmatz und seiner Truppe in London in der Turbinenha­lle der Tate Modern erlebt. Über das Wochenende verteilt kamen 50 000 Menschen aus der ganzen Stadt, von denen sehr viele mittanzten, auch unsere Künstler und unser Aufsichtsp­ersonal.

Werden Sie selbst auch mittanzen?

Charmatz kombiniert profession­elle Tanzgesten mit Bewegungen, die wir in unserem Alltag ständig vollziehen, wie Haare aus dem Gesicht streichen. Der Übergang ist fließend – Kunst und Leben fallen zusammen. Das macht das Werk so spannend, dass man selbst als Nicht-Tänzer Lust bekommt, mitzumache­n. Die Choreograf­ien sind von einem so starken Wunsch nach Austausch mit dem Publikum geprägt, dass es nahezu unmöglich ist, sich dem zu entziehen.

Werden die auf Tempelhof lebenden Geflüchtet­en in „Fous de danse“einbezogen?

Ja, die Geflüchtet­en und der betreuende Sozialdien­st Tamaja waren unsere ersten Gesprächsp­artner auf Tempelhof. Es leben inzwischen übrigens nur noch etwa 200 Menschen in den Hangars. Sie sind natürlich wie ganz Berlin eingeladen. Nicht nur zu „Fous de danse“, sondern auch zu den Proben und den Vorstellun­gen unserer Schauspiel­produktion „Iphigenie“ab dem 30. September, die wir im Hangar 5 auf Arabisch aufführen, mit deutschen und englischen Übertiteln.

Was sagen Sie zu den Menschen, die immer noch Kritik üben und der alten Volksbühne nachtrauer­n?

Man sollte dem Neuen eine Chance und Zeit zur Entfaltung geben. Vielleicht könnte es ja sogar gut werden!

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FOTO: DPA Chris Dercon war zuletzt Direktor des Londoner Museums Tate Modern. Von 2003 bis 2011 leitete er das Haus der Kunst in München. Kritiker befürchten, dass er die Volksbühne zu einer „Eventbude“macht.

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