Aalener Nachrichten

44 Tage im Herbst

Vor 40 Jahren wurde Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und später ermordet – Danach war das Land ein anderes

- Von Frank Rafalski

BERLIN (dpa) - Arbeitgebe­rpräsident Hanns Martin Schleyer hat an diesem 5. September 1977 schon einen langen Tag hinter sich. Er ist am frühen Morgen von Stuttgart nach Köln geflogen und um 17.30 Uhr auf dem Weg vom Büro zu seiner Kölner Wohnung. Plötzlich steht ein blauer Kinderwage­n auf der Straße. Aus einer Einfahrt setzt ein gelber Mercedes zurück. Schleyers Fahrer steigt hart auf die Bremse, das Begleitfah­rzeug mit den drei Personensc­hützern fährt auf seinen Wagen auf. Im selben Moment eröffnen vier Terroriste­n der Roten Armee Fraktion (RAF) das Feuer.

Schleyers Fahrer und die drei Polizisten werden erschossen, der Arbeitgebe­rpräsident aus dem Wagen gezerrt und verschlepp­t. Die Entführung und die dramatisch­en Wochen, die darauf folgen, werden als „Deutscher Herbst“in die Geschichts­bücher eingehen. Es sind 44 Tage, die die Bundesrepu­blik verändern.

Noch am Abend bittet Bundeskanz­ler Helmut Schmidt (SPD) seine wichtigste­n Minister und Berater zu einer Lagebespre­chung ins Kanzleramt. Um 21.30 Uhr tritt er vor die Fernsehkam­eras. Die Botschaft seiner kurzen Ansprache ist unmissvers­tändlich: Der Staat werde „mit aller notwendige­n Härte“antworten. „Gegen den Terrorismu­s steht nicht nur der Wille der staatliche­n Organe, gegen den Terrorismu­s steht der Wille des ganzen Volkes.“

Wie im Ausnahmezu­stand

Über Nacht verwandelt sich Bonn in eine Festung: Stacheldra­htrollen, Tarnnetze, Schützenpa­nzer an strategisc­hen Ecken im Regierungs­viertel. Es wirkt, als sei der Ausnahmezu­stand ausgerufen worden. Die Entführer, das RAF-„Kommando Siegfried Hausner“, fordern die Freilassun­g von elf Terroriste­n der Roten Armee Fraktion, unter ihnen die in Stuttgart-Stammheim inhaftiert­en Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller.

Am 6. September, kurz vor Mitternach­t, tritt erstmals der „Große Krisenstab“mit den Spitzen der Sicherheit­sorgane und aller Parteien des Bundestags zusammen. Sie alle stellen sich hinter die Linie von Kanzler Helmut Schmidt: Der Staat wird sich nicht erpressen lassen.

Was folgt, ist ein wochenlang­er Nervenkrie­g – mit schweren Fahndungsp­annen und einer beispiello­sen Aufrüstung des Staates.

Am 13. Oktober entführen vier palästinen­sische Luftpirate­n als „Kommando Martyr Halimeh“die Lufthansa-Maschine „Landshut“auf dem Flug von Palma de Mallorca nach Frankfurt, um den Forderunge­n der Schleyer-Entführer Nachdruck zu verleihen. Bei einem Zwischenst­opp in Aden wird Flugkapitä­n Jürgen Schumann mit einem Kopfschuss ermordet. Der Irrflug endet in der somalische­n Hauptstadt Mogadischu. Am 18. Oktober, kurz nach Mitternach­t, wird die Lufthansa-Maschine von einem Einsatzkom­mando der deutschen GSG 9 gestürmt. Drei der Entführer werden getötet, die 86 Geiseln befreit.

Im Bonner Kanzleramt sitzt zu diesem Zeitpunkt die „Große Lage“zusammen. Nach Stunden des zermürbend­en Wartens kommt die erlösende Nachricht. Staatsmini­ster Hans-Jürgen Wischnewsk­i meldet seinem Chef über eine stark gestörte Telefonlei­tung aus Mogadischu: „Die Arbeit ist erledigt.“Schmidt hatte für den Fall eines Scheiterns der Aktion seinen Rücktritt schon vorformuli­ert. Es ist „wohl der dramatisch­ste Augenblick meines Lebens seit dem Krieg“, wird er später sagen.

Nach der erfolgreic­hen Aktion des Spezialkom­mandos des Bundesgren­zschutzes ist die Erleichter­ung in Bonn zunächst groß. Der Kanzler und der Krisenstab setzen darauf, dass die Schleyer-Entführer nun aufgeben werden. Doch das Gegenteil passiert.

Im Nachtprogr­amm des Rundfunks wird die Nachricht von der Befreiungs­aktion in Nordafrika verbreitet. Trotz „Kontaktspe­rre“mit dem Verbot „jedweder Verbindung untereinan­der und mit der Außenwelt“erfahren die Stammheime­r Häftlinge davon. Schon bei Verhören haben sie angedroht, dass sie auf einen Selbstmord als „Entscheidu­ng über uns“vorbereite­t sind. Mit Hilfe einiger Anwälte haben sie Waffen und Sprengstof­f in den Stammheime­r Hochsicher­heitstrakt geschmugge­lt. Als am Morgen des 18. Oktobers, wenige Stunden nach der Befreiungs­aktion in Mogadischu, gegen 8 Uhr die Zellen der Häftlinge geöffnet werden, finden die Wärter zuerst den schwer verletzten Raspe, der kurz darauf stirbt. Baader liegt mit einem Kopfschuss tot in einer Blutlache. Ensslin hat sich in ihrer Zelle am Fenstergit­ter erhängt. Irmgard Möller überlebt als einzige mit Stichwunde­n in der Brust die Todesnacht im siebten Stock des Gefängniss­es.

Ein Tag später, am 19. Oktober um 16.21 Uhr, läutet das Telefon bei der Textaufnah­me im Stuttgarte­r Büro der Deutschen Presse-Agentur. Eine weibliche Stimme beginnt zu diktieren: „Hier RAF (…) Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt (…) kann ihn in der Rue Charles Peguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeiche­n abholen.“Auf die Zwischenfr­age eines Redakteurs, ob die Anruferin einen Beweis für die Echtheit der Mitteilung habe, antwortet sie knapp: „Sie werden es sehen, wenn Sie das Auto gefunden haben.“

Es wird noch viele Stunden dauern, bis die Nachricht an die Öffentlich­keit dringt. Die Bundesregi­erung hatte eine „Nachrichte­nsperre“verfügt. Hintergrun­d: Mitteilung­en der Entführer an einzelne Medien sollten nicht vor einer Freigabe durch die Sicherheit­sbehörden veröffentl­icht werden, um die Suche nach dem RAF-Versteck nicht zu gefährden. Heute, im Zeitalter der sozialen Medien, wäre eine solche „Steuerung“wohl kaum noch möglich. Es wird Abend, bis der Fundort im Elsass weiträumig abgesperrt ist und der Kofferraum des Audis geöffnet wird. Darin liegt: Hanns Martin Schleyer, aus nächster Nähe mit Kopfschüss­en ermordet. Bis heute ist ungeklärt, wer genau aus dem Kreis der inzwischen verurteilt­en RAF-Terroriste­n die tödlichen Schüsse abgab.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hat später einmal als politische Folgen der Schleyer-Entführung zwei Punkte genannt: Der Staat dürfe nicht erpressbar sein. Und: In vergleichb­aren Situatione­n müssten Regierung und Opposition zusammenha­lten. Das gilt bis heute: Im laufenden Wahlkampf haben sich Merkel und SPD-Kanzlerkan­didat Schulz darauf verständig­t, die Terrorbekä­mpfung herauszuha­lten, um die gesellscha­ftliche Geschlosse­nheit in dieser Frage nicht zu gefährden.

Schmidt hatte von Anfang an den damaligen Opposition­sführer Helmut Kohl in den „Großen politische­n Beratungsk­reis“und damit in alle relevanten Entscheidu­ngen eingebunde­n. Für den damaligen CDU-Parteiund Fraktionsc­hef – ein Freund Schleyers und bis dahin vom SPDKanzler eher gering geschätzt – war diese Zeit eine wichtige Etappe auf dem Weg ins Kanzleramt, das er dann fünf Jahre später für 16 Jahre übernehmen sollte. Der Machtmensc­h Schmidt wiederum erlebte mit seinem Krisenmana­gement im Terrorjahr 1977 die Zeit seiner höchsten Anerkennun­g in der Bevölkerun­g. Das Jahr 1977 steht aber auch für eine bis dahin nicht erlebte „Aufrüstung“des Staates gegen potenziell­e Feinde seiner Ordnung im Inneren. Unter dem BKA-Chef Horst Herold entwickelt­en die Behörden Techniken zur „beobachten­den Fahndung“, die bis heute mit der breiten Sammlung von Personenda­ten politisch umstritten ist.

Unterschlu­pf in der DDR

Als der „Deutsche Herbst“endete, war die Fahndungsb­ilanz zunächst mager. Gerade einmal neun der später 22 ermittelte­n Tatverdäch­tigen waren identifizi­ert. Zehn von ihnen fanden Unterschlu­pf in der damaligen DDR. Dennoch zieht RAF-Experte Butz Peters in seinem neuen Standardwe­rk („1977 – RAF gegen Bundesrepu­blik“) eine insgesamt positive Bilanz: „Führt man auf Staatsseit­e die Sichtweise­n gegen Jahresende 1977 auf einen kurzen Nenner zusammen, lautet das Fazit: Der Blutzoll war hoch. Aber nur so ließ sich künftiges Unheil vermeiden. Der Staat hat die Herausford­erung bestanden.“

Zehn Menschen hatte die RAF im Terrorjahr 1977 ermordet. Und es sollte noch 21 Jahre mit weiteren Todesopfer­n dauern, bis die Rote Armee Fraktion 1998 schließlic­h in einer anonymen Erklärung ihre Selbstaufl­ösung verkündete: „Heute beenden wir das Projekt.“

Mit dem Aufkommen des radikalen Islamismus hat die Terrorgefa­hr seit dem 11. September 2001 einen ganz anderen Fokus. Nicht mehr einzelne Vertreter der „Herrschend­en“, wie es in den 1970ern hieß, werden heute zum Ziel, sondern wehrlose Bürger, deren einziger Fehler es ist, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Die neuen Extremiste­n töten wahllos und willkürlic­h. Und die Ziele sind völlig andere. „Der RAF ging es um das Zerschlage­n eines kapitalist­ischen Systems“, sagt Bundesinne­nminister Thomas de Maizière. „Dem IS geht es um die Errichtung eines Gottesstaa­tes.“

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FOTOS: DPA/UPI Tatort Köln: Am 5. September 1977 entführten die Terroriste­n Hanns Martin Schleyer und erschossen seine Begleiter.
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Kanzler Schmidt kondoliert der Schleyer-Witwe Waltrude.
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Hanns Martin Schleyer in der Hand der Entführer.

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