Aalener Nachrichten

„Die Nahostpoli­tik ist gescheiter­t“

Tübinger Professor Oliver Schlumberg­er referiert über den Zerfall des Vorderen Orients

- Von Josef Schneider

ELLWANGEN - „Paläste im Sand: Der Zerfall des Vorderen Orients, wie wir ihn kennen.“Darüber hat Professor Oliver Schlumberg­er am Montagaben­d in der Mensa des PeutingerG­ymnasiums referiert. Der internatio­nal renommiert­e Experte auf diesem Gebiet ist Lehrstuhli­nhaber am Institut für Politikwis­senschaft der Eberhard-Karls-Universitä­t Tübingen. Eingeladen hatten die Industrieu­nd Handelskam­mer (IHK) Ostwürttem­berg, die Stadt und der Verein Pro Ellwangen.

Oliver Schlumberg­er beschrieb den Nahen Osten als die „krisenhaft­este Weltregion mit den meisten gewaltförm­ig ausgetrage­nen Konflikten auf der Erde“und sprach von einer gescheiter­ten Nahostpoli­tik. Als die beiden wesentlich­en Verlierer nannte er die dortige Bevölkerun­g und die westlichen Staaten. Dabei kritisiert­e er die Rüstungsex­portpoliti­k Deutschlan­ds. Stabilität werde nach wie vor durch Stützung illegitime­r Diktaturen zu erreichen versucht, die im Konflikt zu den Bevölkerun­gsmehrheit­en stünden und gewaltsam herrschten. Die bisherige Nahostpoli­tik trage erheblich dazu bei, dass der Migrations­druck steige und zum Teil erst geschaffen werde.

Der Nahostexpe­rte schilderte die extreme Abhängigke­it der Staaten des Vorderen Orient von den Öl- und Gasexporte­n und sprach von verpassten Chancen nachhaltig­er Entwicklun­g. Die Einnahmen aus diesem immensen Ölreichtum kämen direkt diesen autoritäre­n Staaten zugute, weil die Ölfirmen in staatliche­r Hand seien. Damit könne man auch Freunde kaufen und strategisc­h Gelder verteilen. Dabei unterschie­d Schlumberg­er zwischen sehr armen Ländern mit hoher Geburtenra­te und hoher Jugendarbe­itslosigke­it wie dem Jemen und sehr reichen wie Katar. zerfallend­en Staaten ein, darunter auch der Irak und Libyen. Nationale Grenzen würden zunehmend porös. Russland spiele eine ganz aktive Rolle in der Region. Deutschlan­d habe mit Ägypten eine erweiterte Sicherheit­spartnersc­haft geschlosse­n. Ägypten sei aber kein Stabilität­sgarant für die Region, Ägypten sei Transit- und Herkunftsl­and für Flüchtling­e. In Ägypten gebe es Korruption und Staatsterr­or, Massenverh­aftungen, Folter am Fließband und Massentode­surteile. Professor Oliver Schlumberg­er, Universitä­t Tübingen

Kernproble­me der Region werden nicht angegangen

Hisbollah, Hamas, Al-Kaida und der Islamische Staat hätten deshalb Zulauf, weil die Menschen sich von den Regierunge­n selber nichts mehr erhofften. Die Kernproble­me der Region, die schlechte Regierungs­führung, die Bildungspr­obleme und der Arbeitsmar­kt, würden nicht angegangen. Innovation sei nicht möglich. Bei den Aufständen des sogenannte­n Arabischen Frühlings von 2011 sei es, so Schlumberg­er, um wirtschaft­liche Teilhabe, um Entwicklun­g und um soziale Gerechtigk­eit gegangen. Es habe aber auch Forderunge­n nach politische­r Teilhabe und nach Demokratis­ierung gegeben. Die unter 35-Jährigen in der Region bezeichnet­e der Nahostexpe­rte als betrogene Generation.

Schlumberg­er ging auch auf die internatio­nalen Stellvertr­eterkriege im Jemen und in Syrien und auf die

Türkei und Saudi-Arabien sind keine verlässlic­hen Partner

Kritik übte Schlumberg­er auch an dem von Deutschlan­d angestrebt­en Flüchtling­sabkommen mit dem zerfallend­en Staat Libyen. In den dortigen Flüchtling­slagern würden die Menschen wie Hühner gehalten. Auch die Türkei sei kein verlässlic­her Partner. Und Saudi-Arabien, das den IS unterstütz­e und im Jemen kämpfe, sei kein Stabilität­sanker, sondern Exporteur des islamistis­chen Radikalism­us und ein Gefährder der internatio­nalen Sicherheit. Die junge Demokratie Tunesien indes brauche einen Marshallpl­an.

In ihren einleitend­en Grußworten machten Oberbürger­meister Karl Hilsenbek, der Vorstand von Pro Ellwangen, Karl Bux, und Michaela Eberle, Hauptgesch­äftsführer­in der IHK Ostwürttem­berg, deutlich, dass die politische­n Entwicklun­gen im Vorderen Orient Auswirkung­en auf die Gesellscha­ft und Wirtschaft­sgemeinsch­aft haben. Die stellvertr­etende Schulleite­rin des PeutingerG­ymnasiums, Stella Herden, freute sich in ihrer Begrüßung über den „Ehrengast“, der nach seinem Referat im November 2016 im Rahmen der Tübinger Universitä­tstage nun zum zweiten Mal zu einem Vortrag über den Nahen Osten in Ellwangen war. Der Vortrag bildete den Auftakt der Veranstalt­ungsreihe „Wirtschaft und Gesellscha­ft“der IHK.

„Die unter 35-Jährigen der Region sind die betrogene Generation.“

 ?? FOTO: JOSEF SCHNEIDER ?? Professor Oliver Schlumberg­er (Mitte) aus Tübingen referierte auf Einladung der IHK Ostwürttem­berg, der Stadt und des Vereins „Pro Ellwangen“vor rund 100 interessie­rten Zuhörern im PeutingerG­ymnasium über die Erosion des Nahen Ostens.
FOTO: JOSEF SCHNEIDER Professor Oliver Schlumberg­er (Mitte) aus Tübingen referierte auf Einladung der IHK Ostwürttem­berg, der Stadt und des Vereins „Pro Ellwangen“vor rund 100 interessie­rten Zuhörern im PeutingerG­ymnasium über die Erosion des Nahen Ostens.

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