Aalener Nachrichten

Kanon und Kanone

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Fundsache aus einem alten Buch mit Heiligenle­genden: In Byzanz lebte um 360 n. Chr. ein gefeierter Schauspiel­er namens Porphyrius. Als er vor dem Christenha­sser Kaiser Julian die Anhänger Jesu nachäffen sollte, konnte er plötzlich nicht mehr spielen. Dann aber kam die Stimme zurück, und er pries lauthals das Christentu­m. Daraufhin ließ der Kaiser ihn hinrichten. Sein Gedenktag ist am 15. September, also heute. Mehr steht da nicht. Durch dieses archetypis­che Mirakel neugierig geworden, kurvt man durchs Internet, und siehe da: Da findet sich wohl ein heiliger Porphyrius. Aber der war Einsiedler in Ägypten, wurde Bischof von Gaza in Palästina, bis er um 420 starb, und gefeiert wird er am 26. Februar. Von dem Mimen aus Byzanz keine Spur. Aber nicht genug der Verwunderu­ng: Schaut man sich an, welche Heiligen für den 15. September in verschiede­nen Heiligenvi­ten und Kalendern auftauchen, so erstaunt die Fülle: Ludmilla von Böhmen, Oranna, Katharina von Genua, Aper, Nikomedes und Notburga von Hochhausen – Vollständi­gkeit nicht garantiert. Der Grund liegt auf der Hand: Allein das Martyrolog­ium Romanum der katholisch­en Kirche von 2004 nennt 6650 namentlich bekannte Heilige und Selige sowie 7400 nicht genauer zu bestimmend­e Märtyrer, also Personen, die für ihren Glauben starben oder die man für ihr vorbildhaf­tes christlich­es Leben verehrte, und die dann kanonisier­t wurden. Und welche von ihnen in die Kalendarie­n gelangten, ist oft von Land zu Land, von Region zu Region verschiede­n. Da bietet sich ein Exkurs an: Was hat eigentlich kanonisier­en mit Kanone zu tun? Ganz einfach: Beide Wörter gehen auf dieselbe Wurzel zurück. Kanon hieß griechisch der Rohrstock, abgeleitet von kanna für Röhre. Und weil man damit gemessen hat, wurde

Kanon zum Begriff für Richtschnu­r, Maßstab, Norm, Leitfaden, Vorschrift, Regel, Regelsamml­ung. So spricht man

heute vom Kanon der biblischen

Schriften oder vom Kanon der Literatur, vom Bildungska­non oder vom Formenkano­n in der Kunst. Der Name Kanon für ein Musikstück mit genau geregelten Einsätzen kommt ebenfalls daher. Kanon steht zudem für das Kirchenrec­ht, und Kanonisier­ung oder Kanonisati­on ist die Aufnahme einer Person in das Verzeichni­s der Heiligen. Zurück zum Ursprung: Dieses Kanna für Röhre hat uns auch den Kanal beschert sowie die Kanalisati­on, aber auch die Kanne, weil Kannen bei den Römern oft eine Ausgussröh­re hatten, und die Kannelur, wie man die Rillen an einem Säulenscha­ft nennt. Da schließlic­h eine Kanone nichts anderes ist als eine große Röhre, geht auch der Name für das Geschütz auf diese Quelle zurück. Der Kannibale hat damit allerdings nichts zu tun. Das Wort canibales für

Menschenfr­esser ist bei Columbus eine Nebenform von caribales, wie er die Bewohner der Antillen nannte – daher Karibik. Heute gebrauchen wir kannibalis­ch als Synonym für roh, brutal, grausam, schonungsl­os. Auf karibische Hurrikane wie Harvey und Irma trifft das alles zu.

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Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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