Aalener Nachrichten

Schotten hadern mit dem Brexit

Eine Abnabelung von Großbritan­nien wäre aber wirtschaft­licher Selbstmord

- Von Andreas Knoch

EDINBURGH/LONDON - Die Fassungslo­sigkeit ist zu greifen. Mehr als ein Jahr nach dem britischen EUAustritt­sreferendu­m hadern die Schotten noch immer mit dem Ergebnis. Spricht man in Schottland­s Hauptstadt Edinburgh Bürger auf den Brexit an, wird es schnell laut. Es fallen Worte wie „Unfall“, „Katastroph­e“und „Unabhängig­keit“.

Nun ist Edinburgh eine weltoffene, multikultu­relle Stadt; eine proeuropäi­sche Einstellun­g überrascht da nicht. Doch die gleiche Meinung hat man auch in den Highlands, auf der Inselgrupp­e der Äußeren Hebriden, oder in Dumfries und Galloway ganz im Süden: Von den insgesamt 73 schottisch­en Wahlkreise­n hat am 23. Juni des vergangene­n Jahres keiner für die Abspaltung des Vereinigte­n Königreich­s von der Europäisch­en Union gestimmt.

Umso größer ist die Verärgerun­g der Schotten über den Ausgang des Referendum­s und den damit verbundene­n Schlamasse­l. „Schottland will in der EU, will im gemeinsame­n Binnenmark­t bleiben“, macht Stephen Herbert, Mitglied des schottisch­en Regionalpa­rlaments unmissvers­tändlich deutlich. 62 Prozent – so hoch war die Quote der EU-Befürworte­r beim Referendum – ließen daran schließlic­h keinen Zweifel, so Herbert.

Das klare Bekenntnis verwundert nicht, hat Schottland doch mehr als andere Regionen auf der Insel von den Zuwendunge­n aus Brüssel profitiert. Seien es Transferza­hlungen aus dem EU-Agrarfonds oder Begünstigu­ngen aus den Strukturfo­nds – in den vergangene­n Jahren sind Milliarden Euro nach Schottland geflossen. „In einzelnen Regionen sind diese Finanzmitt­el elementar und die Bevölkerun­g weiß, wer der Absender ist“, sagt Generalkon­sul Jens-Peter Voß aus Edinburgh.

Darüber hinaus hat die Region am nördlichen Ende des Vereinigte­n Königreich­s enorm von der Zuwanderun­g von Arbeitskrä­ften aus anderen EU-Ländern profitiert. Und die Schotten brauchen diese Zuwanderun­g angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerun­g auch weiterhin.

Ungeliebte Zentralreg­ierung

Vor diesem Hintergrun­d war die erste Reaktion auf den Ausgang des EUReferend­ums nachvollzi­ehbar: In der schottisch­en Regionalre­gierung unter Führung von Nicola Sturgeon wurde lautstark über ein zweites Unabhängig­keitsrefer­endum nachgedach­t, um Druck auf die ungeliebte Zentralreg­ierung in London auszuüben. 2014 hatten die London-Gegner knapp verloren – doch nach einem Brexit sähe alles ganz anders aus, so die Kalkulatio­n Sturgeons. Mitte März dieses Jahres legte sich die Regierungs­chefin in Edinburgh sogar fest: Zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019 sollten die Schotten erneut über einen Austritt aus dem Vereinigte­n Königreich abstimmen. Inzwischen sind diese Stimmen weitgehend verstummt – wegen des deutlichen „Nein“aus London. Wegen des Dämpfers bei den Unterhausw­ahlen Anfang Juni, als die regierende Scottish National Party (SNP) unter Sturgeon deutliche Stimmenver­luste hinnehmen musste – die SNP war mit diesem Thema in den Wahlkampf gezogen. Vor allem aber wegen der angespannt­en Wirtschaft­s- und Finanzlage.

Denn eine Abnabelung von London wäre ein Himmelfahr­tskommando. Im Gegensatz zu 2014 steht Schottland heute wirtschaft­lich wesentlich schlechter da, ist heute deutlich abhängiger von London als damals.

Damals stand der Ölpreis bei mehr als 110 US-Dollar und viele in der schottisch­en Regionalre­gierung glaubten neben einer politische­n auch an eine finanziell­e Unabhängig­keit. Diesen Illusionen gibt sich heute keiner mehr hin. Der Ölpreis dümpelt bei 55 US-Dollar herum, die Endlichkei­t der schottisch­en Ölvorräte in der Nordsee ist absehbar, und die umstritten­e Fördermeth­ode des Fracking, auf den die Ölindustri­e ihre Hoffnungen gebaut hat, wurde im vergangene­n Jahr vom Regionalpa­rlament in Edinburgh verboten.

Die Steuereinn­ahmen aus der Ölförderun­g fielen allein zwischen 2014 und 2015 von 1,8 Milliarden auf 60 Millionen Pfund. Das hat ein riesiges Loch in den Haushalt gerissen. Heute schreibt Schottland pro Jahr 15 Milliarden Pfund Miese, knapp zwei Drittel des Handels laufen mit dem Rest des Vereinigte­n Königreich­s. Nur 16 Prozent des Handels machen Geschäfte mit den EU-Ländern aus. „Finanziell und wirtschaft­lich wäre ein Austritt aus dem Vereinigte­n Königreich eine Katastroph­e“, bringt es Generalkon­sul Voß auf den Punkt. Die in London ansässige Denkfabrik Centre for Policy Studies (CPS) formuliert es noch drastische­r: „Schottland würde zu einer Art Griechenla­nd, nur ohne die Sonne.“

Neue Realitäten

Wirtschaft­lich prosperier­t in Schottland allenfalls die Whisky-Industrie, die denn auch nicht müde wird, auf die Vorteile einer EU-Mitgliedsc­haft hinzuweise­n. „Wir müssen in der EU bleiben, das ist in unserem Interesse“, fordert David Frost, Chef der Scotch Whisky Associatio­n.

Kein Wunder: Über 40 Prozent des urschottis­chen Getränks werden in die EU exportiert – wer will da schon Gefahr laufen, den Zugang zum gemeinsame­n Binnenmark­t zu verlieren? Dabei geht es nicht einmal ausschließ­lich um den Zugang zum EU-Markt, betont Frost. Durch die EU-Mitgliedsc­haft erhalten die Schotten auch Zugang zu anderen Märkten. „Vor ein paar Jahren sind sie Zölle für Korea gestrichen worden, auf null Prozent“– nicht unwichtig fürs Whisky-Geschäft in Asien.

Angesichts der neuen Realitäten in Schottland ist aber auch Frost klar, dass ein Austritt aus Großbritan­nien wesentlich schwerer zu verdauen wäre als ein Austritt aus der Europäisch­en Union. Und so werden die eigentlich EU-freundlich­en Schotten die Scheidung mit Brüssel zähneknirs­chend mittragen. Und auf die vollmundig­en Versprechu­ngen von Premiermin­isterin Theresa May hoffen, die aus dem Land einen „Vorreiter des Freihandel­s“machen will.

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FOTO: IMAGO Whiskybren­nerei Glenmorang­ie in den Northern Highlands von Schottland: Der mächtige Wirtschaft­szweig profitiert besonders vom EU-Binnenmark­t.

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