Jeder ist ein Künstler
Unterhaltsam wie stets: Sven Regeners „Wiener Straße“
Auch wenn es für das Finale nicht gereicht hat – dass er mit seinem fünften Roman erstmals für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, ist ein beachtlicher Erfolg für Sven Regener. Den Protagonisten des Buches wäre die Ehrung aber ohnehin höchst verdächtig gewesen: „Das ist doch Kunstmarktscheiß!“würden die Figuren, die die „Wiener Straße“in Kreuzberg bevölkern, rufen, und gegen das Establishment wettern. Klammheimlich wären sie aber vielleicht doch etwas neidisch, und Erwin Kächele, der schwäbische Herbergsvater der Geschichte, würde sich umgehend nach der Dotierung des Preises erkundigen.
Keine Frage, der neue RegenerRoman ist ein großes Lesevergnügen. Kernstück sind die äußeren und inneren Monologe seiner Figuren – einer davon macht gleich den zweiten Satz des Buches aus und der erstreckt sich ohne Punkt aber mit vielen Kommas über stolze drei Seiten. Nicht ganz so einfach zu beantworten ist dagegen die Frage, ob der 56-Jährige seinem Kosmos außer neuen Figuren und Schauplätzen etwas Neues hinzufügen kann.
Chronologisch ist der Roman in der Mitte zwischen den bereits erschienenen Büchern angesiedelt, also nach „Neu Vahr Süd“und „Der kleine Bruder“. An das letztere Buch schließt die Handlung an: Wie Autor Regener einst auch, ist Frank Lehmann von Bremen nach Berlin gezogen und in das Biotop der Aktionskünstler- und Hausbesetzerszene hineingeschlittert.
Deren Vertreter stehen im Mittelpunkt. Skulpturen-Künstler Karl Schmidt trifft man wieder, Held der gerade im Kino angelaufenen Regener-Verfilmung „Magical Mystery“. Dazu gesellt sich Kneipenbesitzer Erwin, dessen Herz aller Nörgelei zum Trotz aber für die freie Kunst schlägt. Seine Gefährtin Helga ist schwanger, und ihr zuliebe legt er sich nicht nur zum besseren Verständnis der Schwangerschaft einen Umschnallbauch an, sondern siedelt auch seine bisherigen Untermieter um, damit mehr Platz für die Familie zur Verfügung steht. Betroffen sind
Zweiter zentraler Schauplatz ist die ArschArt-Galerie, in der Anführer P. Immel ein strenges Regime führt und sein Adjudant Kacki um die Gunst des großen Meisters buhlt. So schwappt des Geschehen in vielen irrwitzigen Szenen und Momentaufnahmen zwischen den beiden Szenetreffpunkten hin und her; wenn die Handlung dabei überhaupt auf etwas zustrebt, dann auf eine Vernissage im örtlichen Kunsthaus Artschlag.
Eine Entwicklung wie in „Magical Mystery“, wo Karl Schmidt bei aller Episodenhaftigkeit des Geschehens sich allmählich ins selbstbestimmte Leben zurücktastete, ist hier also nicht auszumachen. Dennoch ist Regener auch in der „Wiener Strasse“mehr als nur eine nostalgische Milieustudie gelungen. Im Kern geht es hier um Identität. Das heute längst abgeschmackte Motto des „sich ständig Neuerfindens“wird offensiv ausgelebt. Andererseits sehnt man sich nach heimatlichem Dialekt und Essen, und um darüber hinwegzukommen, schafft man sich eine Ersatzfamilie mit möglichst kleinem Radius.
Dieser fast schon miefigen Enge steht der vom Punk inspirierte Aufbruchsgeist gegenüber. Regener nennt es die Entakademisierung der Kunstszene. Jeder kann jetzt Kunst machen.
„Wiener Straße“ist nicht der große Wurf. Aber Freunden der bisherigen Regener-Romane, seines unverändert liebe- wie humorvollen Umgangs mit Sprache und Figurenzeichnung, dürfte dies bereits Empfehlung genug sein. Galiani-Berlin. 305 Seiten. 22 Euro.