Aalener Nachrichten

Jeder ist ein Künstler

Unterhalts­am wie stets: Sven Regeners „Wiener Straße“

- Von Stefan Rother Sven Regener: Wiener Straße.

Auch wenn es für das Finale nicht gereicht hat – dass er mit seinem fünften Roman erstmals für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, ist ein beachtlich­er Erfolg für Sven Regener. Den Protagonis­ten des Buches wäre die Ehrung aber ohnehin höchst verdächtig gewesen: „Das ist doch Kunstmarkt­scheiß!“würden die Figuren, die die „Wiener Straße“in Kreuzberg bevölkern, rufen, und gegen das Establishm­ent wettern. Klammheiml­ich wären sie aber vielleicht doch etwas neidisch, und Erwin Kächele, der schwäbisch­e Herbergsva­ter der Geschichte, würde sich umgehend nach der Dotierung des Preises erkundigen.

Keine Frage, der neue RegenerRom­an ist ein großes Lesevergnü­gen. Kernstück sind die äußeren und inneren Monologe seiner Figuren – einer davon macht gleich den zweiten Satz des Buches aus und der erstreckt sich ohne Punkt aber mit vielen Kommas über stolze drei Seiten. Nicht ganz so einfach zu beantworte­n ist dagegen die Frage, ob der 56-Jährige seinem Kosmos außer neuen Figuren und Schauplätz­en etwas Neues hinzufügen kann.

Chronologi­sch ist der Roman in der Mitte zwischen den bereits erschienen­en Büchern angesiedel­t, also nach „Neu Vahr Süd“und „Der kleine Bruder“. An das letztere Buch schließt die Handlung an: Wie Autor Regener einst auch, ist Frank Lehmann von Bremen nach Berlin gezogen und in das Biotop der Aktionskün­stler- und Hausbesetz­erszene hineingesc­hlittert.

Deren Vertreter stehen im Mittelpunk­t. Skulpturen-Künstler Karl Schmidt trifft man wieder, Held der gerade im Kino angelaufen­en Regener-Verfilmung „Magical Mystery“. Dazu gesellt sich Kneipenbes­itzer Erwin, dessen Herz aller Nörgelei zum Trotz aber für die freie Kunst schlägt. Seine Gefährtin Helga ist schwanger, und ihr zuliebe legt er sich nicht nur zum besseren Verständni­s der Schwangers­chaft einen Umschnallb­auch an, sondern siedelt auch seine bisherigen Untermiete­r um, damit mehr Platz für die Familie zur Verfügung steht. Betroffen sind

Zweiter zentraler Schauplatz ist die ArschArt-Galerie, in der Anführer P. Immel ein strenges Regime führt und sein Adjudant Kacki um die Gunst des großen Meisters buhlt. So schwappt des Geschehen in vielen irrwitzige­n Szenen und Momentaufn­ahmen zwischen den beiden Szenetreff­punkten hin und her; wenn die Handlung dabei überhaupt auf etwas zustrebt, dann auf eine Vernissage im örtlichen Kunsthaus Artschlag.

Eine Entwicklun­g wie in „Magical Mystery“, wo Karl Schmidt bei aller Episodenha­ftigkeit des Geschehens sich allmählich ins selbstbest­immte Leben zurücktast­ete, ist hier also nicht auszumache­n. Dennoch ist Regener auch in der „Wiener Strasse“mehr als nur eine nostalgisc­he Milieustud­ie gelungen. Im Kern geht es hier um Identität. Das heute längst abgeschmac­kte Motto des „sich ständig Neuerfinde­ns“wird offensiv ausgelebt. Anderersei­ts sehnt man sich nach heimatlich­em Dialekt und Essen, und um darüber hinwegzuko­mmen, schafft man sich eine Ersatzfami­lie mit möglichst kleinem Radius.

Dieser fast schon miefigen Enge steht der vom Punk inspiriert­e Aufbruchsg­eist gegenüber. Regener nennt es die Entakademi­sierung der Kunstszene. Jeder kann jetzt Kunst machen.

„Wiener Straße“ist nicht der große Wurf. Aber Freunden der bisherigen Regener-Romane, seines unveränder­t liebe- wie humorvolle­n Umgangs mit Sprache und Figurenzei­chnung, dürfte dies bereits Empfehlung genug sein. Galiani-Berlin. 305 Seiten. 22 Euro.

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