Aalener Nachrichten

Niels H. soll 106 Menschen getötet haben

Beispiello­se Mordserie des Krankenpfl­egers – Weitere 16 Verdachtsf­älle entdeckt

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OLDENBURG (AFP) - Die beispiello­se Mordserie des früheren Krankenpfl­egers Niels H. aus Niedersach­sen nimmt immer größere Dimensione­n an: Nach Abschluss weiterer toxikologi­scher Untersuchu­ngen an exhumierte­n früheren Patienten gehen die Ermittler inzwischen von 106 Toten aus, wie Polizei und Staatsanwa­ltschaft am Donnerstag in Oldenburg mitteilten.

Aus den seit Anfang der Woche vorliegend­en Testergebn­issen hätten sich 16 weitere Verdachtsf­älle ergeben, erklärten die Beamten der eigens eingericht­eten Sonderkomm­ission Kardio. Sie kämen zu den bereits bekannten 90 mutmaßlich­en Taten hinzu, über die vor zwei Monaten informiert worden war. Damals betonten die Ermittler, dass toxikologi­sche Tests bei 41 Patienten noch liefen, sich die Zahl also erhöhen könne.

In der Summe von 106 sind den Ermittlern zufolge bereits jene sechs Todesfälle enthalten, für die das Landgerich­t Oldenburg H. in zwei Prozessen verurteilt­e. Er verbüßt daher schon eine lebenslang­e Haftstrafe wegen Mordes und Mordversuc­hs. Dazu kommen nach aktuellem Stand weitere 62 Sterbefäll­e an einem Krankenhau­s in Delmenhors­t und 38 Fälle am Klinikum Oldenburg.

Verbrechen aus Eitelkeit

An den beiden Krankenhäu­sern arbeitete H. zwischen 1999 und 2005 als Krankenpfl­eger auf Intensivst­ationen. Nach den vorliegend­en Erkenntnis­sen begann er 2000 damit, schwerkran­ken Patienten eigenmächt­ig verschiede­ne Medikament­e zu spritzen, um Herz-Kreislauf-Stillständ­e herbeizufü­hren und sie dann zu reanimiere­n. Viele Patienten überlebten diese Prozedur nicht.

Die Aufklärung der beispiello­sen Mordserie verlief schleppend. H. war bereits 2005 entlassen und kurz darauf wegen massiver Verdachtsm­omente in einem konkreten Sterbefall festgenomm­en worden. Für diese Tat wurde er 2008 verurteilt. 2014 und 2015 folgte dann ein zweiter Prozess wegen weiterer fünf Taten, in dem H. selbst überrasche­nd etwa 30 Morde einräumte.

Die Ermittlung­en wurden stark ausgeweite­t. Die Sonderkomm­ission Kardio nahm sich systematis­ch sämtliche Sterbefäll­e an seinen früheren Arbeitsstä­tten vor und ließ die Leichen von mehr als 130 ehemaligen Patienten exhumieren. Während der rund dreijährig­en intensiven Ermittlung­en prüften Gutachter zudem zahllose Krankenakt­en, um Unregelmäß­igkeiten zu finden.

Polizei und Staatsanwa­ltschaft betonten einschränk­end, dass die Ermittlung­en zu fünf der 38 Verdachtsf­älle am Klinikum Oldenburg noch nicht abgeschlos­sen seien. Bei ihnen seien weitere Untersuchu­ngen nötig, weil parallel eine medizinisc­h indizierte Medikament­engabe erfolgt sei. Ihre Einstufung könnte sich folglich letztlich noch verändern.

Die Ermittlung­en zum tatsächlic­hen Umfang der Mordserie sind auch damit immer noch nicht beendet. Es fehlen derzeit noch die Ergebnisse der Exhumierun­gen von in der Türkei begrabenen Patienten, die die Staatsanwa­ltschaft über ein internatio­nales Rechtshilf­eersuchen veranlasst hatte.

Die Ermittler rechnen damit, wegen der 100 neuen Verdachtsf­älle Anfang kommenden Jahres Anklage gegen H. zu erheben. Dieser müsste sich dann in einem weiteren Verfahren erneut vor dem Landgerich­t Oldenburg verantwort­en.

H.s Mordserie gilt in der deutschen Rechtsgesc­hichte als beispiello­s. Der Umfang der von ihm verübten Verbrechen wird nach Meinung der Ermittler womöglich nie ans Licht kommen, weil sich die Nachforsch­ungen aufgrund der lange zurücklieg­enden Tatzeit schwierig gestalten und zahlreiche Patienten feuerbesta­ttet wurden.

Die wahren Dimensione­n der Taten von H. dürften wohl „um ein Vielfaches schlimmer sein“, hatte Oldenburgs Polizeiprä­sident Johann Kühme Ende August gesagt. Sie sprengten „jegliche Vorstellun­gskraft“.

Verantwort­liche angeklagt

Warum H. tötete, ist bis heute unklar. Er selbst äußerte sich zu seinen Motiven in den bisherigen Vernehmung­en und Prozessen nicht hinreichen­d. Das Oldenburge­r Landgerich­t ging in seinem Urteil von 2015 davon aus, dass er letztlich seine Fähigkeite­n zur Wiederbele­bung beweisen wollte. Er habe ein „Spiel auf Leben und Tod“zur „Befriedigu­ng seiner Eitelkeit“gespielt.

Fest steht nach Ansicht der Ermittler, dass ein großer Teil der Morde hätte verhindert werden können. Schon am Klinikum Oldenburg gab es eine Statistik, die zeigte, dass während der Schicht von Niels H. die Sterberate und die Zahl der Reanimatio­nen stieg.

Das Klinikum Oldenburg trennte sich von dem verdächtig­en Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeu­gnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhors­t blieb aus. Auch dort gab es bald Gerüchte, weil auffällig viele Patienten während der Schicht von Niels H. starben. Später lagen auch handfeste Beweise vor: Zwei frühere Oberärzte und der Stationsle­iter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlasse­n vor Gericht stehen.

„Die Schreckens­meldungen im Fall Niels H. nehmen kein Ende. Aber noch immer haben Bund und Länder kein wirksames Maßnahmenp­aket erlassen“, kritisiert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brysch. Weiterhin fehlten flächendec­kende Anstrengun­gen, um solche Einzeltäte­r rechtzeiti­g zu stoppen.

Denn Morde wie in Delmenhors­t und Oldenburg könnten überall vorkommen. So gebe es für die meisten der bundesweit 2000 Kliniken kein externes anonymes Meldesyste­m. „Es braucht zudem ein umfassende­s Alarmsyste­m, das Auffälligk­eiten sofort erkennt und schnelles Einschreit­en ermöglicht.“Dazu würden eine lückenlose Kontrolle der Medikament­enausgabe, eine intelligen­te Sterbestat­istik für jede Abteilung und amtsärztli­che Leichensch­auen zählen. „Jedem ernsthafte­n Verdacht muss nachgegang­en werden“, fordert Brysch.

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FOTO: CARMEN JASPERSEN Niels H. auf der Anklageban­k: Die Aufnahme entstand 2015 im Landgerich­t Oldenburg.

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