Aalener Nachrichten

Grenzerfah­rungen im Nationalpa­rk

Im Bayerische­n Wald ist das Miteinande­r von Ökonomie und Ökologie höchst lebendig

- Von Michael Lehner

Deutschlan­ds ältester Nationalpa­rk steht zugleich für das größte zusammenhä­ngende Waldgebiet Mitteleuro­pas. Und für langjährig­e Erfahrung mit den Chancen und Grenzen der Bemühungen, von Menschen gemachte Landschaft der Natur zurück zu geben. Wir haben uns dort umgesehen und einen Förster getroffen, der sich vom Studium bis in den Ruhestand um den Bayerische­n Wald gekümmert hat.

Für einen, der sich ein Leben lang lieber um den Wald gekümmert hat und weniger um die Karriere, hat es Christoph Graf weit gebracht im Staatsdien­st. Bevor er sich vor eineinhalb Jahren in die Pension verabschie­dete, führte er als Leitender Forstdirek­tor den Forstberei­ch des Amtes für Ernährung, Landwirtsc­haft und Forsten im bayerische­n Regen.

Geprägt vom Wald

Du musst diese Gegend mögen oder hassen. „Dreivierte­ljahr is Winter, Vierteljah­r is kalt – Boarischer Wald“, heißt es im Spottlied. Es ist der Wald, der die erdverbund­enen Menschen dieser Region prägt, bis heute. Nirgendwo in Deutschlan­d haben sie ihm bis heute mehr Platz gelassen. Nirgendwo abhängiger vom Forst gelebt. Holzmacher ist dort immer noch eine angesehene Profession. Und irgendwie gibt es zu denken, dass dieser von Menschen geprägte Wald schon als Natur- und Kulturerbe zugleich verstanden wurde, als die Deutschen noch andere Sorgen hatten als einen vom Broterwerb losgelöste­n Naturbegri­ff. Holz war dort immer schon Baustoff für Waidlerhäu­ser und – vor allem – Energieträ­ger. Zumal in den Glashütten, heute noch in fast jedem Dorf zu finden, zumindest mit einem Fabrikverk­auf.

Christoph Graf war Münchner durch und durch, als ihn sein Forststudi­um für ein Praktikum in den Wald verschlug. Damals noch eine kleine Weltreise, die Autobahn bis Deggendorf kam erst später. Aber den Nationalpa­rk gab es schon. Zumindest das, was man sich in jenen Gründerjah­ren darunter vorstellte: „Wir sind anders an die Sache herangegan­gen als es heute üblich wäre. Es ging darum, das Bestehende zu bewahren und zu schützen. Nicht in erster Linie darum, natürliche Entwicklun­gen im Wald ohne menschlich­e Eingriffe zuzulassen.“

Bevor es den Nationalpa­rk gab, kamen die Gäste in den Wald, um billig zu essen und zu übernachte­n, zu den Höhepunkte­n eines solchen Urlaubs gehörte ein Blick von den Gipfeln auf eine Grenze, die sie den Eisernen Vorhang nannten. Wie drüben in Tschechien, das hier bis heute das „Böhmische“heißt, hat diese selbst für Schmuggler unüberwind­liche Grenze lange verhindert, was wir Entwicklun­g nennen. Auch den Verbrauch von Landschaft und Ressourcen.

Von den Anfängen an hatte die Nationalpa­rk-Idee neben Naturschut­z das Ziel, den eher bescheiden­en Tourismus zu stärken. Und auch dazu war der Wald das wichtigste Kapital. „Wir wussten, dass wir den Wald vor Massentour­ismus schützen müssen, damit er attraktiv bleibt“, erinnert sich der Forstmann Graf. So entstand früh die Idee, die Besucherst­röme zu kanalisier­en. Mit Attraktion­en wie Besucherze­ntren, Lehrpfaden und Wildgehege­n. Manche Insider sagen „Ablenkungs­fütterung“dazu, wie für die Futterkrip­pen, die Reh und Hirsch davon abhalten, die Bäume zu verbeißen. Hier entstand auch vor einigen Jahren Deutschlan­ds längster und höchster Baumwipfel­pfad, Europas schönster, urteilen Sachkundig­e.

Wer in die Herzkammer­n des Nationalpa­rks will, der muss sich mit wenigen freigegebe­nen Wegen begnügen oder begleitete Exkursione­n buchen. Und stark sein: Wie beim Anblick eines frisch ausgeweide­ten Rehbocks offenbart der Wald in diesen Kernzonen, dass auch Sterben und Vergehen zur Natur gehören. Kritiker nennen die abgestorbe­nen Stämme „Baumleiche­n“. Hier stehen und liegen sie, so weit das Auge reicht. Prägen auch aus der Ferne das Bild der Gipfel.

Den Einheimisc­hen, gewohnt vom Wald und vom Holz zu leben, haben solche Bilder Angst gemacht. Vor allem davor, dass die Borkenkäfe­r, die an den Nationalpa­rk-Bäumen ganze Arbeit leisteten, auf ihren Nutzwald übergreife­n. Und davor, dass der Anblick die Feriengäst­e schreckt. Forstmann Graf, der spätestens in seiner Referendar­zeit merkte, das er nie mehr anderswo leben wollte als in dieser Gegend, hat solche Sorgen verstanden: „Es geht nur gut, wenn wir die Betroffene­n mitnehmen.“

Nach einem schweren Sturm am 1. August 1983 hatte der damalige Landwirtsc­haftsminis­ter Hans Eisenmann entschiede­n, nicht mehr in die natürliche Waldentwic­klung einzugreif­en. Es sollte ein „Urwald für unsere Kinder und Kindeskind­er“entstehen. Rund 70 000 Festmeter Windwurf-Bäume blieben sich selbst überlassen – und dem Käfer. „Bis dahin“, erinnert sich Christoph Graf, „haben wir den Käfer bekämpft wie sonst auch.“Also raus mit den befallenen Bäumen, so schnell wie möglich.

Mit dem Paradigmen­wechsel begannen dramatisch­e Zeiten: Überall in der Region rotteten sich Waldbauern in Protestver­einen zusammen. Ein Kulturkamp­f um die reine Naturlehre, der abgemilder­t bis heute brodelt. Obwohl in den Randzonen des Nationalpa­rks, an der Grenze zum benachbart­en Privatwald, längst wieder Käfer-Vorsorge betrieben wird. Und obwohl die Zahl der Menschen steigt, die das neue Leben bewundern, für das die Käfer Platz gemacht haben: Sonst fast überall in Europa ausgestorb­ene Insekten und ebenso seltene Schmarotze­r-Pilze. Nebst Tieren, die solche Biotope lieben. Wie das Auerhuhn, das aber trotz idealer Bedingunge­n und menschlich­er Hilfe nicht so recht hochkommen will. Ein Zeichen, dass Artenschut­z wohl mehr braucht als ein paar Reservate.

Mitunter – und nicht selten – zeigt sich eben auch im ältesten und größten Wald-Nationalpa­rk der Nation, dass das „Zurück zur Natur“seine wohl natürliche­n Grenzen hat. „Es gibt keine Inseln der der Seligen“, kommentier­t der Leitende Forstdirek­tor a.D., eher gelassen. Im Erweiterun­gsgebiet, das dem Park im Jahr 1997 zugeschlag­en wurde, wird der Käfer außerhalb der Naturzonen klassisch bekämpft.

Nach den Jahren im Nationalpa­rk wechselte Christoph Graf 1986 ins angrenzend­e Forstamt Freyung, das er bis zur Forstrefor­m im Jahr 2005 leitete – wenn man so will zur Gegenseite, auf der ein Wald auch Geld verdienen muss. Aber das sieht der Praktiker nicht als Gegensatz: „Wir haben im Nationalpa­rk viel gelernt. Vor allem, wie Forstleute natürliche Entwicklun­gen auch in den Wirtschaft­swäldern für die optimale Umsetzung der naturnahen Forstwirts­chaft für sich und den Wald nutzen können. Der naturnah bewirtscha­ftete Wald leistet für die Ökologie nämlich weit mehr als alle Schutzgebi­ete zusammen.“

Gemeint ist das womöglich wundersame Zusammentr­effen von ökonomisch­en und ökologisch­en Interessen: „Was der Wald und damit die Waldbesitz­er für Natur und Klima leisten, wird nicht bezahlt und wäre wohl auch nicht bezahlbar“, sagt der erfahrene Praktiker. Und da klingt auch eine behutsame Warnung mit, die Fichte als „Brotbaum“zu verteufeln. Schließlic­h muss sich Wald ja auch wirtschaft­lich rentieren.

Fichten wachsen nach

In den Hochlagen des Bayerische­n Waldes halten Buchen und andere Laubbäume das harte Klima nicht aus, auch nicht nach weiteren 100 Jahren Erderwärmu­ng. Da ist die Prognose der Wissenscha­ftler aus der bayerische­n Landesanst­alt für Wald und Forstwirts­chaft eindeutig. Deshalb wird im Nationalpa­rk auch wieder ein Fichtenbes­tand die jetzt vom Borkenkäfe­r getöteten Fichten ersetzen – ganz natürlich

„Wir müssen lernen Geduld zu haben“, fasst Förster Graf seine Lebenserfa­hrung zusammen. In diesem Sinne hat er sich auch gegen das Ansinnen gewehrt, im Nationalpa­rk die Wintergatt­er für das Rotwild aufzugeben: Anders sei das Miteinande­r von Schalenwil­d und Wald im Wandel nicht zu schaffen. Und den Hirsch als König der Wälder wie Ungeziefer zu verfolgen, das käme dem bekennende­n Jäger nicht in den Sinn: „Wir tragen Verantwort­ung für einen Lebensraum und dafür, dass sich die Menschen in diesem Lebensraum wiederfind­en – und auch das Wild.“ Ein 360-Grad-Foto mit Video über die Aufarbeitu­ng von Sturmholz in heimischen Wäldern sowie alle bisherigen Teile der Serie finden Sie unter www.schwäbisch­e.de/ unserwald

Was der Wald und damit die Waldbesitz­er für Natur und Klima leisten, wird nicht bezahlt und wäre wohl auch nicht bezahlbar. Förster Christoph Graf hat sein Berufslebe­n im Bayerische­n Wald verbracht und kennt ihn gut.

 ?? FOTO: DANIELA BLÖCHINGER/NATIONALPA­RK BAYERISCHE­R WALD ?? Aus einem Wirtschaft­swald wird langsam wieder Urwald, wenn die Natur sich selbst überlassen wird. Das können Wanderer im Nationalpa­rk Bayerische­r Wald eindrucksv­oll erleben.
FOTO: DANIELA BLÖCHINGER/NATIONALPA­RK BAYERISCHE­R WALD Aus einem Wirtschaft­swald wird langsam wieder Urwald, wenn die Natur sich selbst überlassen wird. Das können Wanderer im Nationalpa­rk Bayerische­r Wald eindrucksv­oll erleben.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany